Fremden Kind
1
S eit über einer Stunde lag sie in der Hängematte und lasGedichte. Das war nicht so einfach: Sie musste die ganze Zeit an George denken, der bald mit Cecil eintreffen würde, außerdem rutschte sie fast willenlos Stück für Stück immer tiefer, bis sie, zu einem Knäuel zusammengesunken, das Buch über sich halten musste, was ermüdend war. Allmählich schwand das Licht, und die Wörter auf dem Papier fingen an, sich voreinander zu verstecken. Sie wollte Cecil unbedingt sehen, seinen Anblick in sich aufsaugen, noch bevor er sie entdeckte, ihr vorgestellt werden und sie fragen würde, was sie las. Vermutlich hatte er seinen Zug verpasst, jedenfalls den Anschlusszug, und sie stellte sich vor, wie er in Harrow und Wealdstone den langen Bahnsteig auf und ab ging und sein Kommen bereits bedauerte. Als fünf Minuten später die über dem Steingarten untergehende Sonne den Himmel rosa verfärbte, schien es plötzlich möglich, dass sich etwas Schlimmeres zugetragen haben könnte. Mit feierlichem Ernst malte sie sich aus, ein Telegramm würde eintreffen, die Nachricht die Runde machen, und sie würde hemmungslos weinen; dann sah sie sich viele Jahre später einem anderen dieses Ereignis schildern, wobei sie noch immer nicht entschieden hatte, um was für eine Nachricht es sich eigentlich handeln würde.
Im Wohnzimmer wurden die Lampen angezündet, und durch das geöffnete Fenster hörte sie, wie sich ihre Mutter mit Mrs Kalbeck unterhielt, die zum Tee gekommen war und dazu neigte, länger zu bleiben, da bei ihr zu Hause niemand auf sie wartete. Durch das Licht, das bis auf den Weg hinaus schien, wirkte der Garten plötzlich einsamer. Daphne glitt von der Hängematte, schlüpfte in die Schuhe und vergaß ihre Bücher. Sie ging auf das Haus zu, doch diese besondere Stunde des Tages, das Geheimnisvolle, das sie barg und das sie bislang übersehen hatte, ließ sie innehalten, lockte sie den Rasen hinunter, den Steingarten entlang, wo der Teich, in dem sich die Schattenrisse der Bäume spiegelten, so tief schien wie der weiße Himmel. Es war jener ausgedehnte, stille Moment, wenn Hecken und Zäune im Dämmer verschwammen, doch alles aus der Nähe Betrachtete, eine Rose, eine Begonie, ein glänzendes Lorbeerblatt, sich mit einem verborgenen Farbimpuls wieder dem Tag übereignete.
Sie hörte ein schwaches, vertrautes Geräusch, das Schlagen des morschen Tors gegen den Pfosten weiter unten im Garten, dann eine fremde, gereizte Stimme, schließlich Georges La chen. Er musste mit Cecil den anderen Weg genommen haben, über Bentley Priory und den Wald. Daphne lief die schmalen, halb überwucherten Stufen des Steingartens hinauf und konnte von oben die beiden im Gehölz erkennen. Sie verstand nicht genau, was sie sagten, doch Cecils Stimme verstörte sie, rasch und resolut nahm sie den Garten, das Haus, ja das ganze bevorstehende Wochenende scheinbar in Beschlag. Es war eine exaltierte Stimme, die sich nicht darum kümmerte, wer sie hörte, doch lag auch etwa Spöttisches und Überhebliches in ihrem Tonfall. Daphne blickte zurück zum Haus, der dunklen Masse, dem Dach und den Kaminschloten, die sich vor dem Himmel abzeichneten, den erleuchteten Fenstern unter der niedrigen Traufe, und sie dachte an Montag und an das Leben, das sie alle bereitwillig wieder aufnähmen, wenn Cecil weg wäre.
Unter den Bäumen war es schon düsterer, und das Wäldchen, das sie bildeten, schien größer als sonst. Die Jungen bummelten, trotz Cecils drängendem Unterton. Während sie zwischen den Birkenstämmen entlangschlenderten, fing sich in ihrer hellen Kleidung und auf der Krempe von Georges Strohhut das nachlassende Licht, nur ihre Gesichter waren kaum auszumachen. George war stehen geblieben und stocher te mit dem Fuß in etwas herum, Cecil, größer, dicht neben ihm, als wollte er den Anblick mit ihm teilen. Vorsichtig ging Daphne auf sie zu, und es dauerte eine Weile, bis sie begriff, dass die beiden ihre Anwesenheit nicht bemerkt hatten. Sie hielt inne, lächelte unsicher, schnappte aufgeregt nach Luft und fing an, verwirrt und angespannt, ihre Stellung zu ergründen. Cecil war ein Gast, ein Erwachsener, dem man keinen Streich spielte, doch über George hatte sie Macht – bloß wusste sie damit nichts anzufangen. Jetzt legte Cecil wie zum Trost eine Hand auf Georges Schulter, obwohl auch er lachte, leiser als vorher; ihre Hutkrempen stießen aneinander, überlappten sich. Cecils Lachen hatte, wie sie jetzt fand, doch etwas Freundliches,
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