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Die Ich-Illusion

Die Ich-Illusion

Titel: Die Ich-Illusion
Autoren: Michael Gazzaniga
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Bestandteile zu erklären, die zufällig ins Bewusstsein gelangt sind. Man beachte die Vergangenheitsform: Die Erklärung und Rationalisierung erfolgt nämlich nachträglich. Der Interpret, der unseren Bewusstseinsstrom zu einem einzigen verwebt, verarbeitet nur das, was auch ins Bewusstsein dringt. Weil das Bewusstsein ziemlich langsam ist, ist alles, was einem bewusst wird, schon geschehen. Wie wir in meiner Anekdote zu Beginn des Kapitels gesehen haben, war ich schon zurückgesprungen, bevor mir klar geworden war, ob ich eine Schlange gesehen hatte oder nur den Wind im Gras. Was bedeutet es nun, dass wir unser Selbstbild nachträglich schaffen? Wie oft fabulieren wir nur und denken uns etwas aus, um das Geschehene in einen Zusammenhang zu bringen, den wir dann für wahr halten?
    Dieser nachträgliche Interpretationsprozess beeinflusst und bedingt die große Frage des Determinismus nach der Möglichkeit des freien Willens, nach unserer persönlichen Verantwortlichkeit und unserem moralischen Kompass. Das werden wir uns im nächsten Kapitel ansehen. Wenn wir uns mit diesen großen Fragen befassen, dürfen wir NIEMALS vergessen, dass alle diese Module Systeme sind, die im Laufe der Evolution entstanden sind. Die Individuen, die sie besaßen, trafen Entscheidungen, die sie überleben und sich vermehren ließen. Sie wurden unsere Vorfahren.

KAPITEL 7
    NACHWORT
    Vor einigen Jahren sah ich eine fesselnde BBC-Fernsehdokumentation, die eine einfache Geschichte erzählte. Ein erfahrener BBC-Journalist wollte bei einem Aufenthalt in Indien einen einheimischen Freund besuchen. Der Film zeigte, wie Kameramann und Reporter in einem Slumviertel durch abschüssige Straßen voller Dreck und Exkremente zur zweieinhalb mal drei Meter großen Hütte des Freundes stapften. Da stand er und strahlte, als er seinen Kumpel aus Großbritannien wiedersah. Wie sich herausstellte, war die Unterkunft, in der er mit seiner Frau und zwei Kindern lebte, auch noch seine Werkstatt und das Ladenlokal. Er verkaufte Kindersportschuhe, diese Sorte mit eingebautem Blinklicht. Irgendwie kamen sie alle in dieser winzigen Behausung zurecht, und während der Kameramann schon zum Aufbruch drängte, weil er den Gestank nicht ertrug, händigte der Inder seinem englischen Freund würdevoll ein Paar Schuhe für dessen Kinder aus. All das fand nach westlichen Maßstäben unter den Bedingungen erbärmlichsten Elends statt, aber Tausch und Gabe zwischen Menschen, menschliches Miteinander überwanden und überstiegen alles – einer von jenen Augenblicken, die uns zu dem machen, wer wir sind. Hierin liegt die Erhabenheit des »Menschlichen«, die wir alle schätzen und lieben und die wir uns von der Naturwissenschaft nicht nehmen lassen wollen. Wir möchten unseren eigenen Wert und den unserer Mitmenschen spüren.
    Ich habe zu zeigen versucht, dass eine bessere wissenschaftliche Erkenntnis der Natur, des Lebens und des Gehirns/Geistes diesen Wert, der uns allen lieb und teuer ist, keineswegs erodieren lässt. Wir sind Menschen, Personen, keine Gehirne. Wir sind jene Abstraktion, die entsteht, wenn der emergente Geist mit dem Gehirn in Wechselwirkung tritt. Wir existieren durch und mit dieser Abstraktion. In Anbetracht einer Wissenschaft, die ständig an ihr zu rühren scheint, suchen wir verzweifelt nach Worten, um unser wahres Wesen zu beschreiben. Aber natürlich sterben wir gleichzeitig fast vor Neugier, zu erfahren, wie all das wirklich funktioniert. Der deterministische Standpunkt der Naturwissenschaft scheint uns zu einer prosaischen Sichtweise zu drängen. Wie schön man es auch umschreibt und ausmalt, letztendlich sind wir nur eine Art Maschinen, die als automatische und geistlose Vehikel physikalisch determinierter Kräfte des Universums funktionieren, Kräfte, die stärker sind als wir. Aus diesem Blickwinkel trägt oder besitzt keiner von uns einen Wert in sich. Wir alle sind bloß Schachfiguren.
    Der gewöhnliche Ausweg aus diesem Dilemma ist, es schlicht zu ignorieren und stattdessen etwas über die Herrlichkeit des Lebens auf phänomenologischer Ebene, die Schönheit des Yosemite-Nationalparks, den Spaß am Sex und die Freude an den Enkelkindern zu sagen und sich mit ihnen prosaisch davontragen zu lassen. Wir können das, weil wir dazu veranlagt sind, diese Dinge zu genießen. So funktionieren wir, und das ist alles. Nehmen Sie sich noch einen trockenen Martini, legen Sie die Füße hoch und lesen Sie ein gutes Buch.
    Ich habe hier versucht, eine
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