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Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker
Autoren: Ingeborg Arlt
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Kurfürstlichen Kammergericht zu Berlin.
Judith, von ihrem Vater feierlich vor die Haustür geführt, wusste, worauf es
bei solchen Auftritten ankam. Nur angesichts mit Haarnadeln misshandelter
Bücher war ihr Vater imstande, etwas zu donnern von der Unvernunft aller Weiber
und langen Haaren und kurzem Verstand. Sonst war er ein Verfechter der Frauen-
und Jungfrauenbildung, der Begründer und Einrichter der Mädchenschule am Ort.
Sie, seine Tochter, hatte durch ihre Haltung zu beweisen, dass das Lesen- und
Schreibenkönnen ein Weib nicht verdarb.
    Sie sah zu
Boden. Schritt für Schritt ging es die Stufen hinab. Langsam führte der Vater
sie Kober zu. Der strahlte. Der hatte ihr in den letzten Tagen geholfen, wo er
nur konnte. Die Tische reichten nicht? Ein Wagen der Kobers fuhr am
Schützenhaus vor und wurde mit Tischen und Bänken beladen. Die Tische reichten
immer noch nicht? Auf einem der Kober’schen Speicher wurden von Kobers
Arbeitern fünf wunderbare, dauerhafte Schragentische gebaut.
    Nun stand sie
vor ihrem Bräutigam, die Blicke gesenkt. Der Brautzug. Das Aufstellungnehmen.
Das Glockengeläut.
    Man setzte
sich in Bewegung, voran die beiden Hochzeitsbitter in ihren prächtigen
olivgrünen Röcken mit den roten Schärpen, dahinter, in schwarzen Chormänteln,
die Kurrendeknaben, die sangen: »Wenn Mann und Weib sich gut verstehn/und
unverrückt zusammengehn.« Und dann folgte, allerdings noch ziemlich verrückt
zusammengehend, das Paar. Judith trippelte nach rechts und Kober nach links.
Kober tat einen Sprung und Judith trat auf der Stelle. Schuld daran war Diso.
Jemand – später stellte sich heraus, dass es die schlesische Elsbeth war –
hatte den Hund auf die Straße gelassen. (»Dos Tier muss ock ooch a bissel
merken vom Feste!«) Nun umsprang er Judith bellend und sich vor
Wiedersehensfreude fast überschlagend.
    »Diso! Pfui!
Pfui, Diso! Aus!«
    Dass eine
Braut mit dem Jungfernkranz auf dem Kopf sich schwanzwedelnd umtanzen lässt,
schickte sich nicht. Dass ein Bräutigam auf dem Weg zum Altar immerzu »Pfui!«
schrie, ging noch weniger an.
    Die Knaben, vom Kantor
drohend angesehen, sangen weiter: »Komm her, mit Fleiß zu schauen/du
christenliche Schar/ wie Gott ein Haus will bauen/dem fromm getreuen Paar.« Die
christenliche Schar am Straßenrand, aus Handwerkern, Kleinkrämern, Tuchknappen,
Ziegelstreichern und anderen armen Leuten bestehend, zeigte sich weniger von
dem Gesang der Knaben als von dem kleinen weißen Hund beeindruckt, der sich
knurrend und grollend mit allen vier Pfoten dagegenstemmte, dass der rothaarige
Simon ihn auf den Hof zurückschleifte.
    Damals
fürchtete man sich in Pritzwalk noch nicht vor den Fliegen.
    Es waren ja
auch nur die üblichen da. Gar keine in der kühlen, dämmrigen Kirche, wenige im
girlandengeschmückten, vom Essensdunst durchzogenen Saal. Kleine schwarze, kaum
zu sehen unter der hohen getäfelten Decke. Leise summende, nicht zu hören in
all dem Stimmengewirr, dem Teller- und Bechergeklapper, dem Umhereilen der
Schenkjungen und Essensträger, dem Raunen, mit dem diese und jene schwer
beladene Platte, von Männern getragen, begrüßt wurde. Ganze Spanferkel trug man
herein. Kalbskeulen, mit gefüllten Artischocken umlegt. Pasteten aus
Ochsenzungen und Pilzen. Karpfen und Hechte. Lämmer am Spieß. Aus den
gebratenen Gänsen quollen goldgelbe Äpfel. Mit dem Steiß nach unten und zu je
sechsen auf eine Platte gesetzt, dampften in Teig gehüllte Hähnchen und Tauben.
Gekochte Hühner wurden mit Krebsschwänzen, Hammelkeulen mit Gurken, Pressköpfe
mit Zwiebelringen serviert. Es gab mit kleinen Würstchen aus Schweinefleisch
gefüllte Kaninchen. Es gab Schweineleber auf Hühnerhälsen. Es gab Eierkuchen
mit Spargel und Hirn.
    Und solange
Judith denken konnte, gab es auch Unterschiede zwischen den Menschen. Immer
saßen die Angesehensten oben im Saal und die Schullehrer wie Valentin in der
Nähe der Tür. Wie sonst sollte man ordnen, wenn nicht nach Alter und Rang.
    Judith, die
sich inzwischen damit abgefunden hatte, dass sie die zu heiße Specksuppe mit
Ingwer nicht auf jedem Teller persönlich kaltblasen konnte, lehnte sich zum
ersten Mal an diesem Tage zurück. Alle hatten zu essen. Alle hatten zu trinken.
Wenn man dem Augenschein trauen durfte, schmeckten ungesonnte Brote
tatsächlich. Auch schien ihr Vater, der sich, den Wortfetzen nach zu urteilen,
die sie ab und zu auffing, mit Richter Scheplitz aus Wittstock wieder einmal
über dessen Kodifizierung des
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