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Ueber Den Deister

Ueber Den Deister

Titel: Ueber Den Deister
Autoren: Wolfgang Teltscher
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Kapitel 1
    Gestern ist die Zeit stehen geblieben, dachte Manfred Marder, und niemand außer mir hat es gemerkt. Der ehemalige Hauptkommissar zelebrierte den ersten Tag seines Ruhestandes mit einer symbolischen Geste. Er stellte sich auf die Terrasse hinter seinem Haus, öffnete den Verschluss seiner Armbanduhr und warf sie mit theatralischem Schwung in den Gartenteich. Die Uhr fiel auf das Blatt einer Seerose und blieb dort liegen. Das Zifferblatt glänzte in der Nachmittagssonne und schien ihn anzugrinsen, als wolle es ihm sagen, dass es so leicht nicht sei, die Zeit loszuwerden. Marder hatte noch nicht die Erfahrung gemacht, wie eng es auf dem Terminkalender eines Ruheständlers zugehen konnte – und auch nicht, wie anstrengend Tage waren, an denen man nichts zu tun hatte.
    Die Uhr war weder aus edlem Metall noch von exquisitem Design, sie ging nicht einmal genau und stahl jedem Tag eine gute Minute – ihr Versinken im Schlamm des Gartenteichs würde für Marder keinen großen Verlust bedeuten. Sie war ein Geschenk seiner Frau, das sie ihm zu seinem fünfunddreißigsten Geburtstag gemacht hatte. Das war lange her, beinahe dreißig Jahre, die Erinnerung an diesen Tag war fast aus seinem Gedächtnis entschwunden. Dennoch, wenn die Uhr in dem Teich versänke, würde Iris bemerken, dass er sie nicht mehr trug, und sie hatte bestimmt nicht vergessen, dass sie ein Geschenk von ihr gewesen war. Marder müsste sich Ausreden einfallen lassen, Ausreden, die sie nicht glauben würde, bis er endlich mit der Wahrheit herausrückte.
    Er entschloss sich, die Uhr vor dem Untergehen zu bewahren. Er holte eine Harke aus dem Geräteschuppen und begann, vorsichtig nach ihr zu angeln. Das war schwieriger, als er gedacht hatte. Zweimal rutschte sie beinahe von dem Blatt in die Tiefe zwischen den Wurzeln der Wasserpflanzen. Marder entschied sich für eine radikale Rettungsmaßnahme. Er zog Jeans und Schuhe aus und stieg, nur mit seiner Unterhose bekleidet, ins Wasser. Er hoffte, dass ihn keiner der Nachbarn beobachtete und sich fragte, was er im Teich triebe. Das Wasser war kalt, der Frühling hatte gerade erst begonnen – vor einigen Tagen noch hatte eine Eisschicht den Teich bedeckt. Er schob die Harke bedächtig über das Blatt der Seerose, spießte das Armband auf und zog die Uhr zu sich heran.
    Er ließ sich von der Sonne trocknen, zog seine Hose wieder an und setzte sich in einen Liegestuhl auf der Terrasse. Als seine Frau vom Einkaufen nach Hause kam, strahlte er sie voller Zuneigung an.
    »Is was?«, fragte Iris.
    »Nix is. Was sollte denn sein?« Marder hielt ihrem Blick stand.
    »Natürlich is was. Immer, wenn du so guckst, ist irgendwas, oder du denkst an etwas, was du mir nicht sagen willst.«
    »Ich hab doch gesagt, dass nichts ist.«
    »Na ja, vielleicht grinst du nur so zufrieden, weil es dein erster Tag in Freiheit ist …, obwohl ich nicht glaube, dass das alles ist.«

Kapitel 2
    Seit seiner Pensionierung war inzwischen mehr als ein Jahr vergangen. Manfred Marder hatte in dieser Zeit Einsichten gewonnen und Erfahrungen gemacht, die ihm während seines Arbeitslebens verborgen geblieben waren. Er hatte seit seinem Abschied von der Polizei viel ausprobiert und manches Unerwartete gelernt. Aber es war nur wenig dabei, was für sein Leben als Ruheständler nützlich schien oder ihm neue Freuden bereitete, die er vorher nicht gekannt hatte.
    An seinen letzten Tag als Polizist dachte er gern zurück. Wichtige Leute der Stadt waren zu seiner Abschiedsparty in das Gebäude der Staatsanwaltschaft in Stade gekommen. Nicht nur, weil es dort Sekt und Häppchen gab, sondern weil die meisten Anwesenden sein Ausscheiden offensichtlich aufrichtig bedauerten. Den wenigen Besuchern, denen Marder nichts bedeutete, waren erschienen, weil sie dienstlich zu dieser Verabschiedung abgeordnet worden waren. Die ranghöchste anwesende Person der städtischen Verwaltung war die Zweite Stellvertretende Bürgermeisterin, die ihm den Dank der Bürger in Worten ausdrückte, die man bei einer solchen Gelegenheit erwarten durfte. Nicht besonders originell, aber schmeichelhaft, wenn sie ehrlich gemeint waren, wovon Marder ausging.
    Außerdem waren Vertreter der Parteien im Stadtrat gekommen, die darauf brannten, angemessene Worte zu äußern. Die Herren der christlichen, sozialen und freien Parteien sowie die grüne Dame kannten Marder nicht persönlich, daher nutzten sie die Feier als Wahlveranstaltung. Sie lobten Marders Verdienste im Kampf gegen die
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