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Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker
Autoren: Ingeborg Arlt
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Veiten!«, rief sie ihm nach. »Iss dich ordentlich satt!«
    Und das tat
er gerade, als plötzlich Heinisch am Tisch stand. Das Gespräch verstummte. Der
Rektor setzte sich gerade hin. Der Kantor und der Konrektor sprangen auf. Nein,
danke, er wolle sich nicht setzen. Mit Knollennase, Doppelkinn und
beträchtlichem Bauch sah Heinisch freundlicher aus, als er zu Kantor und
Konrektor war. Er wolle nur den jungen Klein etwas fragen. Bibliotheksarbeit.
Zusätzlich zum Schuldienst. Ob er die wolle.
    Valentin
schluckte ein Stück Gänseleber hinunter. »Ja«, sagte er voller Freude. Und sah
den Neid: An diesem Tisch hätten alle gewollt.
    »Gut. Dann
zieht Ihr als Stubenmieter und Kostgänger demnächst in mein Haus.«
    Schon schob
der Alte seinen Bauch wieder dem Saalende zu. Fast hatte er seinen Platz unter
dem Pritzwalker Wappen erreicht, als etwas geschah, woran man sich noch lange
erinnern sollte. An der Saaltür entstand ein Aufruhr. Teller schepperten,
Knochen und Essensreste glitschten über die Dielen. Die Diener hatten die Frau
zu halten versucht, aber sie riss sich los, rempelte einen Essensträger, einen
Schenkjungen und Sabellus Chemnitz, den Generalsuperintendenten der Altmark,
an. Es war eine der Küchenfrauen. Mit nasser Schürze und verrutschter Haube
stürzte sie zum Pfarrherrn, den sie für zuständig hielt.
    »Ein Zeichen!
Draußen! Am Himmel! Ein Zeichen!«
    »Wie?«
    »Wer?«
    »Was hat sie gesagt?«
    »Wo sind die
Leichen?«
    »Wer musste
weichen?«
    Die Spielleute legten ihre
Instrumente beiseite, Füße scharrten, Stühle wurden geschoben, eine Bank kippte
um. Alles drängte, schob, quetschte und wollte nach draußen, den Kometen zu
sehen, der die Stadt überzog. Die Wolkendecke der letzten Tage war auf einmal
verschwunden. Ein breites bläulich-silbriges Band nahm fast ein Drittel des
Nachthimmels ein. An seinem schmaleren Ende glühte ein großer,
furchteinflößender Stern. Er war so hell, dass man ihn an den nächsten Tagen
noch im Mittagslicht sah. Zuckende Strahlen sprangen von ihm auf und wurden in
Richtung Schweif abgebogen. Die Küchenleute, die Hochzeitsgesellschaft, die
Bewohner der umliegenden Häuser sahen sich und die Stadt plötzlich in anderem
Licht.
    Aber nicht
der Komet war damals das Zeichen. Wenn man auf die am Himmel achtet, will man
meist die auf der Erde nicht sehen. Magister Heinisch war damals trotz seines
Alters und Bauches auf die Balustrade der Rathaustreppe gestiegen und hatte
versucht, das Fest seiner Tochter zu retten.
    »Freunde!
Silentium!«
    »Ruhe,
Mensch! Lasst ihn doch reden!«
    Sehr wohl, hörte man ihn,
könnten solche Haar- oder Bartsterne, »aster cometes«, wie die Griechen sie
nannten, auch Krieg, Seuchen, Hungersnot, Königstod und Katzensterben bedeuten,
oh ja! Sehr wohl könnten sie, diese seltenen und dadurch uns so schrecklichen
Lichter, auch Fehlgeburten, Feuersbrünste, Misswachs und Teuerung der Fische
nach sich ziehen, aber nur – Aber nur!, sagte er und hob dabei seine Stimme –,
aber nur, wenn sie nicht in den Ptolemäischen Tafeln standen, nur, wenn sie
sich nicht klassifizieren ließen.
    »Pritzwalker! Habt keine
Angst! Dieser dort lässt sich klassifizieren. Er gehört in die Klasse ›pertica
bifurcata‹. Er hat einen deutlich gegabelten Schwanz.«
    Erleichtert sahen alle den
gegabelten Schwanz. Wussten sie’s doch. Freund oder Feind. Gut oder Böse.
Entweder oder. Nur, was sich nicht klassifizieren ließ, war gefährlich.
    Also brauchte
man nicht mehr lange zu starren. Zwar gaben einem noch die englischen Tuche zu
denken, die den eigenen Tuchhandel bedrohten. Zwar dachte man an den Kurfürsten
noch, der sich neuerdings in die Ratswahlen mischte. Zwar kam man vom
Hundertsten ins Tausendste, vom Brandenburgischen ins Böhmische: Ob es wahr
sei, dass die Jesuiten aus Böhmen verjagt worden seien. Ob wirklich ein Heer
der Stände unterwegs sei nach Wien. Aber unter all diesen Gesprächen ging man
zurück in den Saal.
    Wo die
Feststimmung nur bei ein paar Alten dahin war. Wo die damals Jungen weiter
tanzten und tranken. Wo niemand bemerkte, dass nur Elsbeth und Benígna sich um
Judith gekümmert hatten, und wo, als die Nacht immer weiter vorrückte, die
Spielleute immer erschöpfter wurden und das Bier schon zu wirken begann – wo
niemand ahnte, was sie, Judith, ja selbst noch nicht ahnte, damals, als die
Scherze immer anzüglicher wurden, immer deutlicher auf die Brautnacht, die
Beiwohnung, die ehelichen Werke anspielten: dass sie auch mit
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