Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lisa

Lisa

Titel: Lisa
Autoren: Thomas Glavinic
Vom Netzwerk:
 
    1
     
    Ich bilde mir nicht ein, wahnsinnig viel über die Menschen zu wissen. Aber ich weiß immerhin, dass so ziemlich das Einzige, was einem Menschen bei anderen Respekt verschafft, seine Unabhängigkeit ist.
    Und weil ich das über die Fußballfans gesagt habe, alles die reine Wahrheit. Ich sehe sie vor mir, die Schlachtenbummler, die mitreisenden Anhänger, die auf der Heimfahrt im Zug das Spiel diskutieren, Jeansjacke und weiße Socken, gelbe Zähne, Schnauzbart, Schal und Fahne, die Bierdose in der Schwielenhand. Solche Kapazunder sollten das Wahlrecht verlieren. Ich habe nichts gegen Fußball, aber das geht zu weit, solche Ablenkungsmanöver von der Wirklichkeit gehen absolut zu weit.
    Jaja, ich bin ungerecht, aber wer wäre das nicht in meiner Situation. Ich meine, die Lage kann man nicht gerade als ideal bezeichnen. Wenn ich mich vor einem Rudel Hooligans verkrochen hätte, die jemand mit Crack und russischem Billigsprit abgefüllt hat, würde ich mich besser fühlen, wenn nur solche Idioten hinter mir her wären, wie schön wäre das.
    Heute war nicht mein Tag. Vorhin habe ich mir auf dem Holzstuhl im Bad einen Schiefer eingezogen, und wo, am Hintern. War das ein Spaß, den da rauszukriegen, das war ein NASA-Projekt. Habt ihr euch schon mal mit einer Pinzette da hinten bearbeitet, in der freien Hand einen kleinenSpiegel? Eben. In einer solchen Haltung sieht nicht einmal George Clooney würdevoll aus. Und dabei ist es passiert, da habe ich mir auch noch den Rücken verrissen.
    Aber wenn ich ein bisschen nachdenke, fallen mir erheblich größere Probleme ein als mein Rücken und mein Sitzfleisch und die Würde. Noch immer spiele ich mit dem Gedanken, in ein Militärdepot einzusteigen und rings um das Haus Tretminen zu legen. Darüber hinaus habe ich keine Ahnung, wann wir hier wieder wegkommen. Vor allem weiß ich nicht, wo Hilgert steckt. Sein Handy ist tot. Bei der Kripo wimmeln sie mich seit Tagen ab, dabei ist das immerhin die Polizei, die müssten Bescheid wissen, wo sich ihre Leute herumtreiben. Oder imstande sein, es herauszufinden. Oder es wenigstens herausfinden wollen! Pfah.
    Hallo übrigens an alle, die heute zum ersten Mal zuhören. Ich arbeite hier mit ziemlich elender Software, ich sehe nicht einmal, wie viele Hörer ich habe. Aber ich bin dieses Livestream-Programm seit Jahren gewohnt und zu faul, um mich umzustellen.
    Mir war es immer egal, wie viele Hörer ich hatte, ich habe mich da niemals irgendwelchen Illusionen hingegeben. Internetradio ist eine prima Sache, doch wer erwartet, dass ihm Millionen lauschen, steigt wahrscheinlich auch mit glänzenden Augen bei Pyramidenspielen ein. Mir ging es immer darum, meinen Hörer zu finden, den, der mir zuhört, weil er versteht, was ich mache. Mir ging es darum, live zu senden, live Radio zu machen, keine Podcasts, direkt hinaus, das fand ich immer schon faszinierend. Lange bevor ich nur ahnen konnte, dass ich mal in diese isolierte Situation kommen könnte und blablabla. Was ist los, ich klinge ja wie ein Soziotrottel. Ich muss was ziehen.
    Jeden Abend schreibe ich meinen Namen mit Kokain auf den freien Schreibtisch, saublöde Angewohnheit, ich weiß, und jeden Abend ist schon um Mitternacht nichts mehr davon übrig, obwohl ich einen langen Namen habe und die Buchstaben sehr groß sind. Zum Glück bin ich keiner von denen, die auf Koks zu Eisbergen werden, ich bin zu menschlichen Regungen nach wie vor fähig, ich fange bloß zu quasseln an. Außerdem macht der Alkohol einiges wett.
    Moment, ich muss nachsehen, ob Alexander schläft. Wir waren vier Stunden im Wald unterwegs, ich sollte also jetzt Ruhe haben. Naja, bei dem könnt ihr nie wissen.
    …
    Alles in Ordnung. Ich würde mir gern das erste Glas des Abends einschenken, aber wer weiß, was ich dann wieder aufführe, vorgestern wars schon schlimm genug, ihr wisst ja. Die Scherben habe ich noch nicht weggeräumt, die liegen als klebriges Mahnmal in der Ecke, und die Schuhsohlen schmatzen.
    Hilgerts Verschwinden ist so eine Sache. Vielleicht steckt ja … Augenblick …
    … gar nichts dahinter, vielleicht bilde ich mir nur etwas ein, vielleicht bilden die sich alle nur etwas ein und haben sich getäuscht, die ganze Geschichte ist doch auch … Aber natürlich weiß ich, dass sie recht haben. Als einzige andere Möglichkeit kommt in Frage, dass er in so einer Hütte sitzt wie ich. Doch dafür ist er nicht der Typ, in tausend Jahren nicht.
    Hehe, tausend Jahre ist gut.
    Ich bin so sicher, wie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher