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Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition)

Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition)

Titel: Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition)
Autoren: Lauren Oliver
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jetzt
    Als ich ein Mädchen war, schneite es einen ganzen Sommer lang.
    Jeden Morgen ging die verhangene Sonne in einem rauchgrauen Himmel auf und schwebte hinter dem Dunst; abends versank sie orangefarben und besiegt wie die glühenden Überreste einer verlöschenden Flamme.
    Und die Flocken fielen und fielen – sie fühlten sich nicht kalt an, schmerzten aber auf eine ganz besondere Art – und der Wind trieb Brandgeruch herbei.
    Jeden Abend setzten uns meine Eltern vor die Nachrichten. Die Bilder waren immer dieselben: sauber evakuierte Städte, umzäunte Ortschaften, dankbare Bürger, die aus den Fenstern großer, glänzender Busse winkten, während sie in eine neue Zukunft gekarrt wurden, in ein Leben perfekten Glücks. Ein Leben ohne Schmerz.
    »Seht ihr?«, sagte meine Mutter und lächelte mich und meine Schwester Carol an. »Wir leben im großartigsten Land der Welt. Seht ihr, was wir für ein Glück haben?«
    Aber die Asche fiel weiterhin herab und der Geruch nach Tod drang durch die Fenster, kroch unter der Tür hindurch, hing in unseren Teppichen und Vorhängen und strafte ihre Worte Lügen.
    Kann man in einer verlogenen Gesellschaft die Wahrheit sagen? Oder wird man unweigerlich selbst zum Lügner?
    Und wenn man einen Lügner belügt, wird die Sünde dadurch irgendwie neutralisiert oder aufgehoben?
    Diese Art Fragen stelle ich mir jetzt; in diesen dunklen, fahlen Stunden, wenn Tag und Nacht austauschbar sind. Nein. Stimmt nicht. Tagsüber kommen die Wachen, um Essen zu bringen und den Eimer zu leeren; nachts stöhnen und schreien die anderen. Das sind die Glücklichen. Diejenigen, die immer noch glauben, dass ein Geräusch, eine Stimme, irgendetwas nützt. Wir Übrigen wissen es besser und haben gelernt schweigend zu leben.
    Ich frage mich, was Lena jetzt wohl macht. Ich frage mich immer, was Lena macht. Rachel auch. Meine beiden Mädchen, meine hübschen Mädchen mit den großen Augen. Aber um Rachel mache ich mir weniger Sorgen. Rachel war in gewisser Weise immer härter als Lena. Aufsässiger, sturer, weniger gefühlvoll. Schon als Kind machte sie mir Angst: wild und mit glühenden Augen, mit einem Wesen wie das meines Vaters früher.
    Aber Lena … die liebe kleine Lena mit den strubbeligen dunklen Haaren und den roten Pausbäckchen. Sie rettete Spinnen vom Bürgersteig, damit sie nicht zertreten würden; die ruhige, nachdenkliche Lena mit dem süßen Lispeln, das einem das Herz brach. Mein Herz: mein wildes, ungeheiltes, sprunghaftes, unverständliches Herz. Ich frage mich, ob ihre Vorderzähne immer noch vorstehen; ob sie immer noch gelegentlich die Wörter aufwendig und auswendig verwechselt; ob ihr feines braunes Haar glatt und lang gewachsen ist oder sich inzwischen gelockt hat.
    Ich frage mich, ob sie meine Lügen geglaubt hat.
    Ich bin jetzt auch eine Lügnerin. Ich bin gezwungenermaßen dazu geworden. Ich lüge, wenn ich lächele und ein leeres Tablett zurückgebe. Ich lüge, wenn ich nach dem Buch Psst frage und Reue vortäusche.
    Ich lüge allein schon durch meine Anwesenheit hier, auf der Pritsche, im Dunkeln.
    Bald wird es vorbei sein. Bald werde ich entkommen.
    Und dann haben die Lügen ein Ende.

damals
    Als ich Rachels und Lenas Vater zum ersten Mal sah, wusste ich es. Ich wusste, dass ich ihn heiraten würde, wusste, dass ich mich in ihn verlieben würde. Ich wusste, dass er meine Liebe nie erwidern und dass mir das nichts ausmachen würde.
    Ich war damals siebzehn, mager, verängstigt. Mit einer zu großen, ramponierten Lederjacke, die ich in der Kleiderkammer gekauft hatte, und einem handgestrickten Schal, der nicht annähernd warm genug war, um mich vor dem eisigen Dezemberwind zu schützen. Er heulte über den Charles River, blies den Schnee weg und trieb den Leuten auf der Straße alle Farbe aus dem Gesicht, so dass sie weiß wie Gespenster herumgingen, die Köpfe zum Schutz gesenkt.
    Es war der Abend, als Misha mich zum Cousin des Freundes einer Freundin brachte, er hieß Rawls und betrieb einen Brain Shop in der neunten Straße. So nannten wir die schmuddeligen Zentren, die in dem Jahrzehnt, nachdem das Heilmittel gesetzlich vorgeschrieben worden war, überall aus dem Boden schossen. Einige gaben sich wenigstens einen halbwegs seriösen Anstrich, mit Wartezimmern wie in einer richtigen Arztpraxis und OP -Tischen, auf die man sich legen konnte. In anderen gab es nur einen Typen mit einem Messer, der einem das Geld abknöpfte und eine Narbe verpasste, die hoffentlich
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