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Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition)

Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition)

Titel: Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition)
Autoren: Lauren Oliver
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alles, was ich noch habe. Er ist gleichzeitig Trost und Schmerz, weil er mich an alles erinnert, was ich hatte, besaß und was mir genommen wurde.
    Er ist auch mein Stift. Ich schreibe meine Geschichte damit immer und immer wieder in die Wände. Um sie nicht zu vergessen. Um sie wahr werden zu lassen.
    Ich denke an Conrads Hände, Rachels dunkles Haar, Lenas Rosenknospenmund. Daran, wie ich immer in ihr Zimmer schlich, als sie noch ein Kind war, und sie im Schlaf hielt. Rachel ließ das nie zu – von Geburt an schrie sie dann, trat um sich und hätte das Haus und die ganze Straße geweckt.
    Aber Lena lag ruhig und warm in meinen Armen, in irgendeinem geheimen Traumland versunken.
    Diese Nachtstunden waren mein Geheimnis – unser gemeinsamer Herzschlag, die Dunkelheit, die Freude.
    All das schreibe ich.
    Möge mich die Wahrheit befreien.
    Meine Zelle ist voller Löcher. Löcher, wo der Stein porös wird, von Schimmel und Feuchtigkeit zerfressen. Löcher, in denen die Mäuse ihr Zuhause einrichten. Löcher in der Erinnerung, wo Menschen und Dinge verloren gehen.
    In der Unterseite meiner Matratze ist auch ein Loch.
    Und in der Mauer hinter meinem Bett noch eins, das täglich größer wird.
    An jedem vierten Freitag im Monat bringt Thomas mir frische Bettwäsche für die Pritsche. Der Tag des Wäschewechsels ist mein Lieblingstag. Er hilft mir, ein Gefühl für die Zeit zu bewahren. Und in den ersten Nächten, bevor das frische Laken von Schweiß und Staub, der ständig wie Schnee auf mich herabrieselt, verdreckt ist, fühle ich mich fast wieder wie ein Mensch. Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wieder in der Wärme unseres alten Hauses zu liegen, mit dem Holz und der Sonne, dem Geruch nach Waschmittel, einem illegalen Lied, das leise aus dem alten Plattenspieler ertönt.
    Und der Tag des Wäschewechsels ist natürlich auch der Tag, an dem ich Nachrichten erhalte.
    Heute bin ich bereits kurz vor Sonnenaufgang wach. Meine Zelle hat kein Fenster und jahrelang konnte ich die Nacht nicht vom Tag unterscheiden, den Morgen nicht vom Abend – eine farblose Existenz, eine alterslose, endlose Zeit. Im ersten Jahr meiner Gefangenschaft träumte ich dauernd von der Außenwelt – von der Sonne auf Lenas Haar, warmen Holzstufen, dem Geruch am Strand bei Ebbe, angeschwollenen Regenwolken.
    Aber mit der Zeit wurden sogar meine Träume grau und formlos.
    Das waren die Jahre, in denen ich sterben wollte.
    Als ich nach drei Jahren des Grabens, Schabens und Ritzens in den weichen Stein mit einem Stück Metall, das nicht größer war als ein Kinderfinger, die Wand durchbrochen hatte – als das letzte Stück Stein abbröckelte und trudelnd in den Fluss unter mir fiel –, galt mein erster Gedanke nicht der Flucht, sondern der Luft, der Sonne, dem Atmen. Zwei Nächte lang schlief ich auf dem Boden, nur um den Wind zu spüren, den Geruch nach Schnee einatmen zu können.
    Heute habe ich das Laken und die grobe Decke – Wolle im Winter, Baumwolle im Sommer –, die Standardausrüstung in Block sechs, von meinem Bett abgezogen. Kissen gibt es nicht. Ich habe mal mit angehört, wie ein Wachmann erzählte, ein Gefangener habe versucht sich selbst zu ersticken. Seitdem waren Kissen verboten. Es klingt unwahrscheinlich, allerdings ist es einem Gefangenen vor zwei Jahren auch gelungen, den zerrissenen Schnürsenkel eines Wachmanns an sich zu nehmen und sich damit am Metallrahmen seiner Pritsche zu erdrosseln.
    Ich bin die Letzte in der Reihe, daher höre ich wie immer das ganze Ritual: die Türen, die geräuschvoll aufgehen, das gelegentliche Schreien oder Stöhnen, das Quietschen von Thomas’ Turnschuhen und dann den lauten Knall, das Klicken, wenn die Zellentür wieder zugeht. Das Warten auf die saubere Bettwäsche ist meine einzige Aufregung, mein einziges Vergnügen: wie ich das dreckige Laken in meinem Schoß zusammengeknüllt halte, mein Herz wie eine Motte in meinem Hals flattert, und ich denke: Vielleicht diesmal, vielleicht …
    Erstaunlich, wie die Hoffnung weiterlebt. Ohne Luft oder Wasser, ohne kaum etwas, das sie nähren könnte.
    Der Riegel wird zurückgeschoben. Die Tür geht knirschend auf und Thomas erscheint mit einem gefalteten Laken. Seit elf Jahren habe ich mein Spiegelbild nicht gesehen – seit ich hier angekommen bin und im Krankenblock saß, während mir eine Wärterin die Haare abschnitt und meinen Schädel rasierte. Sie erklärte mir, das sei nur zu meinem Besten – dann würde ich keine Läuse
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