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Göttin der Wüste

Göttin der Wüste

Titel: Göttin der Wüste
Autoren: Kai Meyer
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PROLOG
Die Wüste Namib
Deutsch-Südwestafrika
Dezember 1906
    Gestern noch hatte sie geglaubt, niemals mit dem Toten sprechen zu können. Gestern war die Welt noch eine andere und der Aufruhr in ihrem Inneren ohne Hoffnung gewesen. Der Tote – wie lange hatte sie nach ihm gesucht, wie lange jeden Hinweis, jede Spur verfolgt. Heute aber, da sie fast am Ziel war, fragte sie sich, ob alles nur eine Illusion war, ein Trugbild des Wüstenlichts, eine Fata Morgana vor ihren Augen, aber auch in ihrem Kopf.
    Vielleicht, so dachte sie, ist dies das Schlimmste, das die Wüste einem antut: der Verlust des Vertrauens in die eigene Wahrnehmung. Hier draußen, so weit ab von jeglicher Zivilisation, ist alles möglich, alles vorstellbar. Und wenn man nicht achtgibt, erscheint einem Phantasie wie Wirklichkeit und Wirklichkeit wie Phantasie. Das Gehirn lullt einen in bunte Visionen, während es verdorrt. Das mag gut sein oder schlecht – auf jeden Fall ist es das letzte, was geschieht. Und am Ende, irgendwie, sind gut und schlecht sowieso ein und dasselbe.
    Die anderen waren im Lager hinter den Dünen zurückgeblieben. Das hier war allein ihr Weg, und wenn sie sich umschaute, den Blick einmal um sich selbst und über die endlose Öde der Namib kreisen ließ, war es, als wäre sie wirklich allein, der letzte Mensch inmitten eines Ozeans aus Sand und Dürre und flirrender Glut.
    Ein heißer Wind wehte böig über die weißgelben Dünen, wirbelte Staub empor und fand einen Weg durch das Tuch, das sie sich eng um Hals und Gesicht geschlungen hatte. Der Wind fand immer einen Weg – tatsächlich war das einer ihrer ersten Gedanken hier in Südwest gewesen, einer der frühesten, an die sie sich erinnern konnte. Wie hätte sie ahnen können, wieviel Wahrheit in dieser winzigen, scheinbar unbedeutenden Feststellung lag?
    Mit dem Wind trieb Wüstenstaub in ihre Augen, stach und biß und brannte. An den Schmerz hatte sie sich längst gewöhnt, nicht aber an diese kurzen Momente, in denen der Sand ihr die Sicht raubte. Blindheit, dazu die Einsamkeit – sie kannte beides nur zu gut. Und doch war sie geblieben, nach allem, was geschehen war, und sie würde auch dann noch bleiben, wenn sie endlich vollbracht hatte, weswegen sie hergekommen war.
    Vor ihr erhob sich eine bizarre Felsformation aus den Dünen, zahllose Säulen aus Lavagestein, eng aneinandergedrängt, eckig und mit scharfen Kanten. Die hinteren Säulen waren höher als die vorderen, eine Ansammlung steinerner Orgelpfeifen. An der Westseite, schutzlos der Nachmittagssonne ausgeliefert, klaffte eine Öffnung inmitten der sandfarbenen Felsen, als hätte man dort einen einzelnen Quader entfernt. Der Einstieg zur Höhle des Toten.
    Sie hätte eines der Kamele nehmen können, um das letzte Stück vom Lager bis hierher zurückzulegen. Aber ihr Führer hatte einen Sandsturm vorausgesagt, irgendwann in den nächsten Stunden. Ein einzelnes Kamel am Fuß der Felsen wäre völlig ungeschützt gewesen; in der Gruppe waren die Tiere sicherer.
    Die anderen hatten am windabgewandten Hang einer Düne Zelte aufgeschlagen und Sand dagegen geschaufelt. Der Führer, ein kleiner Mann aus dem Volk der Damara, hatte darauf bestanden, das Lager inmitten der Dünen zu errichten, nicht etwa im Schutz der Felsen. Sand schütze am besten vor Sand, hatte er geheimnisvoll erklärt. Vielleicht hatte er recht, obgleich wahrscheinlicher war, daß er Angst hatte. Jeder, der sich in dieser Gegend auskannte, fürchtete die Felsen.
    Während sie sich der haushohen Formation näherte, fasziniert von der wundersamen Geometrie der Steinsäulen, horchte sie auf den Gesang des Windes, der durch die Spalten und Öffnungen pfiff. Dunkel und unheimlich klangen diese Laute, dabei sogar ein wenig melodiös. Wie eine Oboe, dachte sie benommen, und mit dem Gedanken brachen zahllose Erinnerungen über sie herein. Wie lange war es her, daß sie zum erstenmal die Oboe gehört hatte? Drei Jahre? Vier?
    Der Schatten der Felsen fiel nach Osten. Sie war froh, ihn nicht durchqueren zu müssen. Die Warnungen der Eingeborenen hatten in ihr einen unheilvollen Nachhall hinterlassen, sosehr sie sich auch dagegen wehrte. Sie hatte gelernt, Ratschläge der Himba und Damara, vor allem aber der San nicht als bloßes Gerede abzutun. Die Menschen hier wußten viel über die Wüste, und am meisten wußten sie über die Gefahren, die dieses Land barg. Wer konnte ihnen verübeln, daß sie den Toten fürchteten, und mit ihm seine zerklüftete Behausung?
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