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Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition)

Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition)

Titel: Annabel (Amor-Trilogie) (German Edition)
Autoren: Lauren Oliver
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bekommen.
    Meine monatliche Dusche findet in einem fensterlosen, spiegellosen Raum statt, einer steinernen Kiste mit mehreren verrosteten Duschköpfen ohne heißes Wasser. Wenn meine Haare wieder abrasiert werden müssen, kommt die Wärterin zu mir und ich werde gefesselt und an einem schweren Metallring an der Tür festgebunden, während sie mit mir beschäftigt ist. Aber wenn ich Thomas betrachte und sehe, wie die Jahre seine Haut haben anschwellen und erschlaffen lassen, tiefe Falten in seine Augenwinkel gegraben und sein Haar ausgedünnt haben, kann ich mir vorstellen, was die Zeit mit mir gemacht hat.
    Er reicht mir das frische Laken und nimmt mir das dreckige ab. Er sagt nichts. Das tut er nie, zumindest nicht laut. Es ist zu gefährlich. Aber unsere Blicke begegnen sich und wir verständigen uns auf diese Weise.
    Dann ist es vorbei. Er dreht sich um und geht. Die Tür klappt knirschend zu und der Riegel wird an seinen Platz geschoben.
    Ich stehe auf und gehe zur Pritsche. Meine Hände zittern, als ich das Laken auseinanderfalte. Darin liegt ein sorgfältig versteckter Kissenbezug, den Thomas zweifellos aus einem anderen Block hereingeschmuggelt hat.
    Die Zeit ist eigentlich nichts anderes als eine Geduldsprobe. So funktioniert es, funktioniert es seit Jahren: ein Kissenbezug im Monat, dann und wann ein Extralaken. Bettwäsche, die verschwindet, ohne dass sie jemand vermisst, Bettwäsche, die zerrissen, eingedreht, geflochten werden kann.
    Ich schiebe die Hand in den Kissenbezug. Ganz unten steckt ein kleines Stück Papier, ebenfalls sorgfältig gefaltet, das Thomas’ einzige Anweisung enthält: Noch nicht.
    Meine Enttäuschung ist körperlich spürbar: ein bitterer Geschmack im Mund, ein flüssiges Gefühl im Bauch. Ein weiterer Monat des Wartens. Ich weiß, ich sollte erleichtert sein – das Seil, das ich gemacht habe, ist noch zu kurz, und ich müsste aus drei Metern Höhe in den Presumpscot River springen. Was die Gefahr vergrößert, auszurutschen, sich irgendwas zu brechen oder zu verstauchen, aufzuschreien.
    Und ich darf auf keinen Fall aufschreien.
    Um nicht allzu viel über das Warten, das vor mir liegt, nachzudenken – weitere dreißig Tage an diesem luftlosen, dunklen Ort, weitere dreißig Tage in der Nähe des Todes –, knie ich mich hin und stecke die Hand unter die Pritsche, taste nach dem faustgroßen Loch in der Matratze. Das ganze Jahr über habe ich immer wieder eine Hand voll Schaum und Füllmaterial herausgezogen und es in dem metallenen Nachttopf entsorgt, in den ich pinkele und kacke und mich, wenn die Magen-Darm-Grippe umgeht, übergebe. Ich umfasse einen Strang aus Baumwolle und ziehe; Zentimeter um Zentimeter kommt all die gestohlene Bettwäsche zum Vorschein, in Streifen gerissen und geflochten, verstärkt, um mein Gewicht tragen zu können. Inzwischen ist das Seil gut zehn Meter lang.
    Ich verbringe den Rest des Abends damit, den Kissenbezug vorsichtig zu zerreißen, indem ich mit der Schneide des Dolchanhängers, die inzwischen fast vollkommen stumpf ist, Löcher in den Stoff bohre und reiße. Es hat keinen Zweck sich zu beeilen.
    Ich kann nirgendwo hin, habe nichts anderes zu tun.
    Als ich meine tägliche Abendessensration bekomme, bin ich fertig mit der Arbeit. Ich stecke das Seil zurück in sein Versteck, schiebe, drücke es in die Öffnung: eine umgekehrte Geburt. Hinterher esse ich mein Abendbrot, ohne es zu schmecken, was wahrscheinlich ein Segen ist. Dann liege ich auf meiner Pritsche, bis unvermittelt das Licht ausgeht. Das Wimmern setzt ein, das Murmeln und das gelegentliche Schreien von jemandem, der einen Albtraum hat oder vielleicht aus einem schönen Traum wieder aufwacht. Seltsamerweise finde ich die nächtlichen Geräusche inzwischen fast tröstlich.
    Irgendwann kommen mir Erinnerungen an Lena in den Sinn und dann Bilder vom Meer; schließlich schlafe ich ein.

damals
    Es gab damals keinen Widerstand; es gab noch nicht mal das Bewusstsein, dass wir Widerstand leisten müssten. Es gab Versprechen von Frieden und Glück, einer Erlösung von der Instabilität und der Verwirrung. Ein Pfad und ein Platz für alle. Eine Möglichkeit, immer zu wissen, dass der Weg der richtige war. Die Menschen strömten in die Labors, um sich heilen zu lassen, wie sie früher in die Kirchen geströmt waren. Die Straßen waren voll von Plakaten, die den Weg zu einer besseren Zukunft wiesen. Eine zentrale Behörde; Jobs und Ehen, die geschaffen waren, wie angegossen zu passen.
    Und ein
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