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Seelennacht

Seelennacht

Titel: Seelennacht
Autoren: Kelley Armstrong
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1
    A ls sich die Tür meiner Zelle klickend öffnete, schoss mir folgender Gedanke durch mein schlafmittelvernebeltes Hirn: Hatte Liz es sich doch noch anders überlegt und war zurückgekommen? Aber Geister öffnen keine Türen. Es kann vorkommen, dass sie
mich
bitten, eine zu öffnen, damit ich die Zombies ermordeter Paranormaler befragen kann, die von einem wahnsinnigen Wissenschaftler hinter der Tür begraben wurden, aber sie sind niemals darauf angewiesen, dass ihnen selbst Türen geöffnet werden.
    Ich setzte mich im Bett auf und rieb mir die Augen, um die Benebelung, die mich umfing, abzuschütteln. Die Tür stand einen kleinen Spalt weit offen. Ich glitt aus dem Bett, schlich auf Zehenspitzen über den dicken Teppich meines Pseudohotelzimmers und betete darum, dass der Mensch auf der anderen Seite weggegangen sein möge und ich entkommen würde, bevor diese Leute mit ihren Experimenten begannen – was auch immer es genau sein mochte, das sie mit mir …
    »Hallo, Chloe.« Dr. Davidoff strahlte mich mit seinem schönsten Netter-alter-Herr-Lächeln an, als er die Tür ganz aufstieß. Er war gar nicht so alt – fünfzig vielleicht –, aber in einem Film hätte ich ihn trotzdem für die Rolle des tatterigen, zerstreuten Wissenschaftlers gewählt. Ich bin mir sicher, dass er diese Masche geübt hatte, bis er sie perfekt beherrschte.
    Die Frau hinter ihm hatte blonde Haare und trug ein typisches New Yorker Kostüm. Sie hätte ich in der Rolle der Mutter des zickigsten Mädchens der Klasse besetzt. Was Beschiss gewesen wäre, denn genau das war sie: die Mutter von Victoria – Tori – Enright, der einzigen Hausbewohnerin, die wir nicht in unsere Pläne eingeweiht hatten, als wir aus Lyle House geflohen waren. Und zwar aus gutem Grund, denn immerhin war Tori mit dafür verantwortlich gewesen, dass ich überhaupt hatte fliehen müssen.
    Toris Mutter hielt eine Klamotten-Tüte in der Hand und sah aus, als käme sie gerade von einem kleinen Einkaufsbummel zurück und würde jetzt nur noch schnell ein paar grauenhafte Experimente durchführen wollen, bevor sie zum Mittagessen ging.
    »Ich weiß, dass du eine Menge Fragen hast, Chloe«, sagte Dr. Davidoff, nachdem ich mich wieder auf die Bettkante gesetzt hatte. »Wir sind hier, um dir Antworten zu geben. Wir brauchen vorher nur ein bisschen deine Unterstützung.«
    »Simon und Derek«, sagte Mrs. Enright, »wo sind sie?«
    Ich sah von ihr zu Dr. Davidoff hinüber, der lächelte und mir ermutigend zunickte, als habe er keinerlei Zweifel daran, dass ich meine Freunde verraten würde.
    Ich war nie ein rebellierender Teenager gewesen. Ich war nie von zu Hause weggelaufen, hatte nie mit dem Fuß aufgestampft und gebrüllt, dass das Leben unfair sei und ich mir wünschte, nie geboren worden zu sein. Jedes Mal, wenn mein Dad mir mitgeteilt hatte, dass wir wieder umziehen würden und ich ein weiteres Mal die Schule wechseln musste, hatte ich ein weinerliches »Aber ich hab doch gerade erst Freunde gefunden!« hinuntergeschluckt, genickt und ihm versichert, dass ich das verstand.
    Akzeptier dein Schicksal. Sei froh über das, was du hast. Sei ein großes Mädchen.
    Als ich jetzt auf ein Leben zurückblickte, in dem ich immer getan hatte, was man mir gesagt hatte, wurde mir klar, dass ich das Spiel einfach mitgespielt hatte. Wenn die Erwachsenen mir den Kopf tätschelten und mir sagten, wie erwachsen ich war, dann meinten sie damit, wie froh sie waren, dass ich nicht erwachsen genug war, um Zweifel zu haben und mich zu wehren.
    Als ich jetzt Dr. Davidoff und Mrs. Enright betrachtete und mir bewusst machte, was sie mir angetan hatten – mich belogen, mich eingesperrt –, da
wollte
ich mit dem Fuß aufstampfen. Wollte brüllen. Aber den Gefallen würde ich ihnen nicht tun. Stattdessen riss ich die Augen auf, als ich Mrs. Enrights Blick erwiderte. »Meinen Sie damit etwa, Sie haben sie noch gar nicht gefunden?«
    Ich glaube, sie hätte mich geohrfeigt, wenn Dr. Davidoff nicht beschwichtigend die Hand gehoben hätte.
    »Nein, Chloe, wir haben die Jungen noch nicht gefunden«, erklärte er. »Und wir machen uns Sorgen um Simons Sicherheit.«
    »Weil Sie fürchten, Derek könnte ihm etwas antun?«
    »Nicht absichtlich natürlich. Ich weiß, dass Derek Simon sehr gern hat.«
    Gern hat?
Was für eine merkwürdige Bezeichnung in diesem Zusammenhang. Derek und Simon waren Pflegebrüder und standen sich näher als jedes blutsverwandte Brüderpaar, das ich jemals
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