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Die Hure und der Henker

Die Hure und der Henker

Titel: Die Hure und der Henker
Autoren: Ingeborg Arlt
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noch einmal genau nach, worauf es
nun ankam: dass der Zeitpunkt der richtige sei, und vor allem, dass der Same
auf die rechte Seite des Mutterleibes falle!
    Aber entweder
hatte Judiths Mutter sich damals verzählt und es war ihm nicht gelungen, ihr am
vierten Tag ihrer monatlichen Zeit beizuwohnen, oder er hatte im entscheidenden
Augenblick nicht mehr gewusst, wo rechts und links ist, jedenfalls war, was zur
Welt kam, ein Mädchen.
    Vielleicht
aber hatte man dem Alten auf der Hochzeit dieses Mädchens nun auch lediglich
eine Rechnung präsentiert: »Herr Magister! Die Einstellung eines vierten
Lehrers habt Ihr durchgesetzt. Seit alters her stehen den Lehrern für das
Singen der Brautmesse neun Silbergroschen zu. Und wie teilt man nun neun
Silbergroschen durch vier?«
    Oder es war die Fortsetzung
seiner Bemühung, war er es doch damals, der nach dem Einsturz des
Ratskornbodens über den nachgelassenen Sohn der verunglückten Klein’schen entschied.
Der Kornboden gehöre der Stadt. Die Mutter sei in Diensten des Rates gestorben.
Folglich sei das Kind, zumal es Begabungen zeige, auf Kosten des Magistrats
aufzuziehen. Er war es gewesen, der dafür sorgte, dass der verwaiste Junge zu
der kinderlosen Witwe Vyfken Kalkofen kam.
    Oder es war die Erinnerung
des Alten an die eigene Jugend, denn auch er war ja einmal Lehrer gewesen und
hatte deren karge Besoldung und ihr Angewiesensein auf Freitische und
Nebenverdienste am eigenen Leibe erfahren.
    Oder nichts
von dem allen traf zu und es ging ihm tatsächlich nur um die Bücher.
    Wirklich fest
stand nur eines: Nach Brautzug, Trauung und Geschenkübergabe, nach dem ersten
und dem zweiten Hunger der Gäste, sah der Alte immer häufiger zum Tisch der
Lehrer hinüber. Rektor, Konrektor und Kantor unterhielten sich, während
Valentin immer noch aß. Er aß fleißig, hingegeben und mit äußerstem Ernst. Er
löffelte, spießte, säbelte, schnitt. Er schlürfte, schmatzte, kaute und
schluckte. Dass er beobachtet wurde, merkte er nicht.
    Womöglich
ahnte der Magister auch etwas von seiner Enttäuschung, denn vierzehn Tage vor
jener Hochzeit war Valentin vom Studium zurückgekommen. Zum letzten Mal, hatte
er bei seiner Abfahrt in Leipzig gedacht. Zum letzten Mal, dass er aufgehalten
wurde am Tor, rennen musste durch die Hallische Vorstadt, abgekanzelt wurde in
der Fuhrmannsherberge, weil er zum Aufladen der Fässer zu spät kam. Was er sich
einbilde! Seine Arbeit wäre das Entgelt gewesen. Dann solle er das Mitfahren
eben in barer Münze bezahlen! Zum letzten Mal, dachte Valentin, dass jemand so
mit ihm sprach. Ein paar Tage nur noch. Wechselnde Fuhrleute, Wagen und Pferde.
Zum letzten Mal in den Herbergen Holzteller und Holzlöffel für ihn. Bald schon,
bald, stand ihm Zinngeschirr zu. Bald würden Kerle wie die, denen man an der
neuen Zugbrücke bei Fehrbellin den Brückenzoll zahlte, ihn ehrfürchtig grüßen,
statt zu grinsen, als er die Reihe der wartenden Wagen entlanglief, wobei sie
Wetten abschlossen darüber, ob ihn noch jemand mitnahm. Zum letzten Mal, hatte
er bei seiner Rückkehr gedacht. Bald war er in Amt und Würden. Bald, als
Lehrer, gehörte er dem Ersten Stande der Bürgerschaft an.
    Und das tat
er nun freilich, wie er da aß, während die anderen redeten und des alten
Magisters Blick auf ihm ruhte. Zum Ersten Stande gehörte er nun.
    Nur, dass man
ihn am Morgen gebeten hatte, bis die Braut aus dem Haus geführt wurde, auf die
Knaben der Kurrende zu achten. Nur, dass man ihm dafür ein Geldstück zusteckte,
das er verlegen ablehnte, das man ihm wieder zurückgab und das er, um dem Hin
und Her ein Ende zu machen – »Nein, nehmt nur!« – »Aber nicht doch.« – »Aber
doch!« –, schließlich auch nahm. Und dann formierte sich der Brautzug. Und dann
hörte er hinter sich sagen: »Aber genommen hat er es doch.«
    Zum Ersten Stande der
Bürgerschaft, genauso wie die Bürgermeister und Ratsherren und Magister und
Doktoren, gehörte er nun. Nur, dass Heinrich Kunow, Dietrich Wordenhoff und wen
sonst noch im Festzug er aus den Jahren an der Lateinschule kannte, auch ihre Mütter
in der Gästeschar wussten, während ihm ein Zuruf vom Straßenrand galt:
»Valentin! Huhu! Hier bin ich!«
    Die kleine, schmächtige Frau,
die dort auf den Zehen stand, das Kinn über die Schulter ihres Vordermanns
reckend und voller Aufregung darüber, ihren Jungen an der Spitze des langen
Zuges zu sehen, war Vyfken Kalkofen, seine Ziehmutter, die es gut mit ihm
meinte. »Viel Spaß,
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