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Die Hüterin der Quelle

Die Hüterin der Quelle

Titel: Die Hüterin der Quelle
Autoren: Brigitte Riebe
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Schüler«, sagte er, als sie nebeneinander am Sarg standen. »Einer der Besten, die ich je getroffen habe.«
    Simon stand da wie versteinert.
    »Adam hat sich immer für den schwierigsten Weg entschieden«, fuhr Grün fort. »Das hat ihn ausgezeichnet. Ein Suchender. Ein großer Zweifler. Bis zuletzt.«
    »Wie soll ich nur ohne ihn weiterleben?«, brach es aus Simon heraus. »Jetzt, wo ich ihn endlich gefunden hatte?«
    Er breitete seine Arme aus und ließ sie schon im nächsten Moment resigniert wieder sinken.
    »Die Erinnerung kann uns niemand nehmen.« Der alte Jesuit neigte seinen Kopf. »Behalte die hellen Tage. Und gib die dunklen dem Schicksal zurück.«
    »Adam hat mir den Weg gezeigt …«
    »Du wirst ihn weitergehen. Mit ihm. Denn wenn wir die Toten nicht vergessen, leben sie weiter in unseren Herzen.«
    Zart berührte er Simons Stirn.
    »Ich möchte jetzt allein mit ihm sein«, presste Simon hervor. »Noch dieses eine Mal.«
    Josef Grün schlug ein Kreuzzeichen.
    »Gott segne dich, mein Sohn!«, sagte er.

    Zwei Fuhrwerke krochen den Domberg herauf, in Schrittgeschwindigkeit, weil der Boden unter den Pferdehufen spiegelglatt war. Pankraz Haller kutschierte das erste; das zweite wurde von Harlan Pacher gelenkt.
    »Wir sind spät«, flüsterte Marie.
    »Wir kommen rechtzeitig. Die Christmette beginnt erst in zwei Stunden«, versuchte er sie zu beruhigen. »Bis dahin sind wir längst wieder weg.«
    »Und wenn Veit …«
    »Er lebt, mein Mädchen. Das ist das Einzige, was jetzt zählt.«
    Haller verstummte. Noch ein Wort mehr – und alles würde aus ihm herausbrechen. Die Opfer, die er für diesen Mann bringen musste, den er nicht einmal leiden konnte. Die vielen Taler aus seinem Vermögen, die er für seine Flucht investiert hatte. Die Ungewissheit, wie Förner mit ihm verfahren würde, sobald Veit frei war. Denn er würde Bamberg nicht verlassen. Dies war seine Stadt; hier wollte er leben und sterben – mit Hanna, wenn sie einverstanden war.
    Sie stiegen ab, gingen mit klopfenden Herzen bis zur vereinbarten Türe.
    »Wo ist eigentlich Simon?«, sagte Marie.
    »Ich hab ihn gerade hinüber zum Dom rennen sehen«, erwiderte der Braumeister. »Er wird gleich wieder zurück sein.«
    Sie schien ihn gar nicht richtig zu hören.
    Er sah sie an. »Soll ich?«
    Marie nickte.
    Pankraz Haller stieß die Türe auf.
    Der Gang, der vor ihnen lag, war lang und feucht. Sickerwasser rann von den Wänden. Es roch scharf nach Exkrementen. Ratten huschten an ihnen vorbei, aufgeschreckt durch das Licht, das sie bei sich hatten.
    Marie biss sich auf die Unterlippe, bis sie blutete.
    »Ich sehe nirgendwo Wachen«, flüsterte sie.
    »Er hat sie abgezogen oder betrunken gemacht. Aber das ist nicht unsere Angelegenheit.«
    »Der Weg scheint tatsächlich frei zu sein. Förner hält, was er versprochen hat.«
    »Das will ich ihm auch geraten haben«, sagte Pankraz grollend. »Bei den Unsummen, die er dafür verlangt hat.«
    Aus der vergitterten Zelle, auf die sie als Erstes trafen, drang dumpfes Stöhnen.
    »Das hier ist deine Abteilung«, sagte Haller zu dem Holzhändler, der ihnen schweigend gefolgt war. »Und pass in Zukunft besser auf deine Frau auf, damit sie nicht wieder Unsinn macht!«
    Agnes stieß einen Schrei aus, als Harlan zu ihr trat. Sie verdrehte die Augen, einer Ohnmacht nah. Er nahm sie auf die Arme, trug sie nach draußen. Tränen rannen über sein Gesicht. Sie war kaum noch schwerer als seine Tochter Dorle.
    Dann waren auch Pankraz und Marie am Ziel. Veit lag auf der schmalen Pritsche, die Hände in zwei unförmigen Verbänden. Als Pankraz die Fackel näher an ihn hielt, verzerrte sich sein Gesicht in Todesangst.
    »Ich bin tot«, murmelte er. »Ich muss tot sein, wenn ich euch sehen kann!«
    »Das bist du nicht«, sagte Marie. »Du lebst, und wir holen dich jetzt heraus.«
    Sie hatten seine Fußfesseln geöffnet, wie vereinbart, aber Veit schien es gar nicht zu bemerken, als die schweren Eisen von ihm abfielen. Das Stehen war eine Tortur für ihn; das Gehen erst recht. Schwer stützte er sich auf ihre Schultern. Sie mussten ihn halb herausschleifen.
    Draußen half Simon, ihn auf den Wagen zu laden, wo Selina, in Decken gehüllt, bereits wartete.
    »Papa«, sagte sie, als er schwach gegen sie fiel. »Papa!«
    Marie trat zu Förner, der sich in einer Nische verborgen gehalten und alles beobachtet hatte.
    »Den Brief!«, verlangte er. »Und meinen Rosenkranz. Gib her!«
    »Von dem Brief existiert eine Abschrift.«
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