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Die Hüterin der Quelle

Die Hüterin der Quelle

Titel: Die Hüterin der Quelle
Autoren: Brigitte Riebe
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Sie reichte ihm das Verlangte, sorgsam darauf bedacht, ihn nicht zu berühren. Lieber hätte sie eine Ratte angefasst als ihn. »Nur für den Fall, dass Ihr es Euch anders überlegen solltet und Anstalten macht, uns aufzuhalten.«
    »Geh mir aus den Augen!«, sagte er drohend. »Verschwindet endlich – für immer. Wenn einer von euch Sternens jemals wieder diese Stadt betritt, dann …«
    »Wir gehen nach Italien«, sagte Marie. »Und dort wird Simon kunstvoll weiterführen, was Ihr seinem Vater auf grausame Weise genommen habt.«
    Förner drehte sich um und verschwand wortlos im Dunkel.
    »Er wird sich nicht ändern«, sagte Pankraz Haller. »Dieses eine Mal habt ihr ihn aufhalten können. Doch die Wut und der Hass in ihm sind nicht beseitigt.«
    »Wir leben«, sagte Marie und blinzelte schräg nach oben zu ihrem Vater. »Auch wenn ich noch nicht weiß, wie ich das künftig ohne dich anstellen soll.«
    Der Braumeister schloss seine Tochter in die Arme und hielt sie, bis Selinas raue Stimme dazwischenfuhr.
    »Und ich, nonno ? Hast du mich ganz vergessen?«
    Er musste lachen, trotz seiner bleischweren Brust, stieg auf den Wagen und umarmte das Mädchen. Schließlich hielt er sie ein kleines Stück von sich weg, damit sie seine Lippen lesen konnte.
    »Ich dich vergessen, Selina? Niemals!«
    Als Pankraz wieder unten stand, ließ Simon die Peitsche knallen. Das Fuhrwerk setzte sich langsam in Bewegung.

    »Ich kann Reka nirgendwo finden.« Avas Stimme klang traurig. »Er ist nicht im Haus. Und am Fluss habe ich auch schon vergebens nach ihm Ausschau gehalten.«
    »Er weiß, dass wir fortgehen«, sagte Mathis. »Reka hat es längst gespürt. Deshalb ist er verschwunden. Das ist Otterart, sich so von dir zu verabschieden. Komm jetzt, Ava. Es wird Zeit.«
    Sie nickte. Dachte an Reka, ihren treuen Gefährten. Dann schoben sich wieder die Gedanken an Veit und Marie davor. Wenn alles nach Plan verlaufen war, mussten sie mit ihrem Pferdewagen schon ein ganzes Stück in Richtung Nürnberg gekommen sein, und wenn sie Nürnberg erst einmal erreicht hatten, waren sie in Sicherheit. Die Stadt lieferte keinen aus.
    Gedanken, die sie froh machten. Veit lebte. Und Marie würde dafür sorgen, dass es ihm gut ging. Sie hatte kein weiteres Wort über das Kind in ihrem Bauch verloren. Jetzt, wo sie gemeinsam gegen Förner gekämpft hatten – und hoffentlich auch gesiegt.
    »Ich hab ihn gestern mit einem Weibchen gesehen«, sagte Toni. »Ganz nah am Ufer. Sie war ein bisschen kleiner als er. Und hatte helleres Fell. Die beiden sahen ganz fröhlich aus, so zusammen.«
    Kuni warf ihm einen strengen Blick zu. »Wieder nur eine deiner Geschichten, Toni?«
    »Du weißt doch, dass er nicht lügt, Kuni«, sagte Lenz. »Toni sagt immer die Wahrheit!«
    Kaspar schob kichernd den Weidenkorb auf seinen schmalen Schultern zurecht und stellte sich neben Kuni.
    »Fertig?«, fragte Mathis.
    Mit einem letzten Blick umfasste Ava die Stube, die auf einmal leer und fremd wirkte. Dann ging sie als Erste hinaus. Nach ein paar Schritten blieb sie stehen, zog ihr Messer heraus.
    »Du willst dich noch vom Holler verabschieden?«, sagte Mathis. »Ich pflanz dir einen neuen, Ava! Wo immer wir ansässig werden.«
    Sie schnitt ein paar Zweige ab. Steckte sie in ihren Korb, sodass sie ein Stück herausragten und feucht bleiben konnten.
    »Wir nehmen die Geister der Ahnen mit«, sagte sie. »Jetzt, wo wir wieder nach Hause gehen.«
    Kurz darauf war es Mathis, der stehen blieb.
    »Und der Fluss?«, sagte er. »Kein Abschied von ihm?«
    »Nein«, sagte Ava. »Wir werden einen anderen finden. Die Quelle ist in jedem von uns.«

    Nach dem letzten »Amen« wurde es ganz ruhig im Dom. Kein Hüsteln mehr, nicht mal mehr ein Flüstern. Das große steinerne Kirchenschiff erstrahlte im Licht der unzähligen Kerzen.
    Fuchs von Dornheim hob gerade den Arm, um den Weihnachtssegen zu erteilen, als eine klare Kinderstimme die weihevolle Stille durchschnitt.
    »Sieh nur, Mama, der Engel!«
    Alle Köpfe flogen zu ihm herum.
    Ein kleiner Blondschopf war aus der Kirchenbank gelaufen und stand nun vor Simons Krippe, auf Augenhöhe mit den schlichten, schönen Holzfiguren.
    »Der Engel, auf dem Berg. Über der Krippe. Er ist weggeflogen!« , rief er. »Der Engel ist nicht mehr da.«

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Die Krise des 17. Jahrhunderts oder: »Die Welt ist aus den Fugen«
    Das 17. Jahrhundert wurde bereits von Zeitgenossen als »martialisches Säkulum«
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