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Die Hüterin der Quelle

Die Hüterin der Quelle

Titel: Die Hüterin der Quelle
Autoren: Brigitte Riebe
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und tot am Boden. Ava lehnte ihre Wange an den Stamm. In seinen Zweigen wohnen die Vorfahren, das hatte sie schon als Kind gelernt. Der Lebensbaum, der stets in Menschennähe wächst und zu kümmern beginnt, wenn ein Haus brennt oder eine Kapelle abgerissen wird. Mehr als alles andere war er für sie die Erinnerung an ein verlorenes Zuhause, an einen anderen Garten, in dem sie gespielt und gelacht hatten, unter den dunklen Dolden des Holunders.
    Das war lange vorbei.
    Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann tasteten ihre kräftigen Finger den Zweig entlang. Sie spürte erste Knospenansätze. Kraftvoll fühlten sie sich an, lebendig. Der Holler war ein Baum voller Wunder. Wenn sie Glück hatte, würde er sich erholen, und sie konnte den Kindern im Herbst Saft und Marmelade vorsetzen.
    Der Gedanke an die fünf, stets zusammen und doch so unterschiedlich, brachte sie in Bewegung. Kuni, die drei Jungen und vor allem die Kleine, die sich ihnen als Letzte angeschlossen hatte, brauchten ein warmes Quartier, jetzt, wo die Kälte den Frühling so jäh in die Flucht geschlagen hatte, und sie würden hungrig sein.
    Sie überschlug die Fischmenge, die sie für den heutigen Markttag vorgesehen hatte, und zog ein gutes Drittel davon ab. Lenz und Toni konnten mühelos für vier essen, und selbst Kaspar, der Jüngste, war in letzter Zeit kaum satt zu bekommen. Einer der Gründe, warum sie mit Bastians Hilfe bereits im Herbst den Räucherofen vergrößert hatte. Jetzt war er so stattlich, dass er die Rückseite des Schuppens füllte.
    Bastian Mendel hätte gern noch mehr für sie getan, alles für sie getan, aber das konnte er sich aus dem Kopf schlagen. Denn da gab es auch noch Mathis, den sie lieber niemals zu genau fragte, woher er seinen Fang hatte. Sie war nicht zu kaufen, weder mit Fischen noch mit Schmeicheleien, und der wortkarge Fischermeister hatte diese Lektion ebenso lernen müssen wie der Wilderer, der nie um eine Ausrede verlegen schien.
    Gestern war sie zu müde gewesen, um die Forellen und Schleien herauszunehmen und die Zander und Hechte abzuhängen. Jetzt holte sie das Versäumte nach, legte die Fische in zwei Körbe und freute sich, als sie noch eine Reihe fast vergessener Äschen entdeckte. Thymianduft erfüllte den ganzen Schuppen. Das Wasser lief ihr im Mund zusammen.
    Rekas Stupsen wurde dringlicher. Sie warf ihm den kleinsten Fisch zu. Hungrig stürzte er sich darauf.
    »Ich werde mich beeilen müssen«, sagte sie und ließ einen zweiten folgen, den er ebenso gierig verschlang, schließlich einen dritten. »Heute dauert ohnehin alles länger, darauf kannst du wetten. Auf dem Markt werden sie viel zu reden haben, jetzt, wo die Welt aus den Fugen geraten ist.«
    Aufmerksam schaute Reka zu ihr hinauf. Ava war überzeugt, dass er jedes Wort verstand.
    »Ja, ich möchte, dass er kommt«, sagte sie. »Ich wünsche es mir, mehr als alles andere. Obwohl ich ihn kaum kenne und so gut wie nichts über ihn weiß. Aber ich will sein Lächeln wieder in meinem Rücken spüren. Und sehen, wie seine Hände meine Fische anfassen, wenn sie schon nicht meine Haut streicheln.«
    Unwillkürlich hatte sie sich bewegt, stieß sich dabei mit der Schulter am gemauerten Ofen und unterdrückte einen Schmerzenslaut.
    »Natürlich wird Bastian eifersüchtig sein. Und Mathis könnte einen seiner Wutanfälle bekommen. Aber ich gehöre ihnen nicht. Und schließlich müssen sie es ja nicht einmal erfahren. Der Krippenschnitzer ist und bleibt mein Geheimnis. Mein wunderschönes, kostbares Geheimnis, Reka.«

    Das Jungbier war verdorben. Pankraz Haller roch es, als er seinen Felsenkeller auf dem obersten Stephansberg betrat. Vier riesige Bottiche, und allen entströmte der gleiche Gestank. Betreten stand Georg Schneider, sein dienstältester Braugeselle, daneben.
    Haller zog seinen Rock aus, krempelte die Hemdsärmel hoch. Jetzt störte ihn, dass das brokatbesetzte Wams so eng saß. An feiner Kleidung lag ihm nichts. Er trug sie nur, weil später eine Sitzung im Rathaus stattfand, an der er teilnehmen musste.
    »Wie konnte das passieren?« Schimmel hatte sich abgesetzt, trieb träge im flackernden Licht der Öllampen auf der Oberfläche. »Am Brunnenwasser kann es nicht liegen. Das Quantum Malzschrot ist richtig bemessen, die Siedezeit stimmt. Die Würze war in Ordnung, als du sie bei mir geholt hast. Das habe ich selber überprüft. Woran liegt es also?«
    »Drutenwerk!« Georg Schneiders mageres Gesicht wurde finster. »Habt Ihr
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