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Ein Tag ohne Zufall

Ein Tag ohne Zufall

Titel: Ein Tag ohne Zufall
Autoren: Pearson Mary E.
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    Als ich das erste Mal weggeschickt wurde, war ich sieben. Sogar die weitgereisten Freunde meiner Eltern waren ein wenig befremdet, worauf ich nach kurzer Zeit wieder nach Hause durfte. Wenn es Gerede gibt, ist das anscheinend doch peinlich. Meine Eltern stellten ein Kindermädchen ein, was das Problem aber nur teilweise löste. Ich lebte immer noch im selben Haus, war nicht zu übersehen und zu überhören. Als ich dann acht war, schien es zumutbar, mich wieder wegzuschicken. Was meine Eltern dann auch taten.
    Ich blieb nie lange an einem Ort, dafür stellen die Beratungslehrer zu viele lästige Forderungen. Zum Beispiel, dass mich meine Eltern mindestens einmal besuchen sollen. Oder dass ich die Ferien zu Hause verbringen soll. Wenn das mit den Gerüchten wieder losgeht, werde ich woandershin verfrachtet, das kenne ich schon. Ich passe auf, dass ich mich nirgendwo zu heimisch fühle oder mich auf irgendwen einlasse. Das hat sowieso keinen Zweck.
    Nach Hedgebrook bin ich mit fünfzehn gekommen. Das ist jetzt fast zwei Jahre her. Es ist bei weitem das schönste Internat, in dem ich je war, das muss man meinen Eltern lassen. Die rote Backsteinvilla liegt inmitten sanfter grüner Hügel. Weil hier vorher eine Psychiatrie drin war, sind die Fenster in den meisten Schlafräumen noch vergittert, trotzdem habe ich aus meinem Zimmer einen wunderschönen Ausblick über die weite Wiesenlandschaft. Die weißen Zäune ziehen sich auf und ab über die Hügel, ich schaue auf zwei rot gestrichene Scheunen und ein Gehöft, das allerdings schon so weit weg ist, dass ich die Farbe der Gebäude nicht richtig erkennen kann – blau vielleicht?
    Heute ist der neunzehnte Oktober, das gleiche Datum wie damals, als ich mit sieben zum ersten Mal weggeschickt wurde. Ich achte immer sehr auf Zahlen, Daten und irgendwelche Übereinstimmungen. Manche Leute halten mich deswegen für zwanghaft, ich sehe mich eher als aufmerksame Beobachterin, die die verborgenen Gesetzmäßigkeiten in scheinbaren Zufällen aufzuspüren versucht. Damit wäre allerdings die ganze Definition von
Zufall
auf den Kopf gestellt, oder? Aber vieles ist in Wirklichkeit ganz anders, als es auf den ersten Blick scheint.
    Hedgebrook – Heckenbach – zum Beispiel. Hier gibt es massenweise Hecken. Sie trennen Gärten, Stallungen und Felder voneinander. Manche sind hoch, aber nicht besonders dicht, und ihre Zweige wehen im Wind wie Laken auf der Leine. Andere sind niedrig und dicht an dicht gepflanzt und erinnern an ängstliche Schildkröten, die sich in ihre Panzer verkrochen haben. Wieder andere, die weiter entfernt stehen, wuchern wild am Ufer der Bäche und in den Talsenken und sind eher willkürliche Ansammlungen von Bäumen und Sträuchern, schon fast Wäldchen, die rein zufällig als Hecken dienen.
    Dann gibt es natürlich noch die Bäche, in der näheren Umgebung von Hedgebrook gleich vier davon. Ich nehme an, dass sie alle derselben Quelle entspringen oder sonst irgendwie miteinander verbunden sind, jedenfalls schlängeln sie sich um das Internat herum wie offene Schnürsenkel, und man hört es praktisch von überall leise gluckern.
    Das alles ist jedoch reiner Zufall, denn Hedgebrook ist in Wirklichkeit nach einem gewissen Argus Hedgebrook benannt, der sich hier im Jahre 1702 ein Haus gebaut hat. Kein außergewöhnlicher Zufall, womöglich überhaupt keiner, trotzdem beschäftigt er mich, so wie mich das heutige Datum beschäftigt.
    Ich ziehe mein Laken glatt wie jeden Morgen, seit ich hier bin. In Hedgebrook ist alles haarklein geregelt. Gegen den geregelten Tagesablauf zu verstoßen hat Konsequenzen, und ich halte mich an die Vorschriften und die Schulordnung, weil ich mich hier einigermaßen wohl fühle. Es ist nicht der schönste Ort auf der Welt, aber ich kann mich hier unsichtbar machen, was nicht das Schlechteste ist. Das Internat ist wie eine zweite Haut, schmiegt sich um mich wie mein weicher grauer Frotteebademantel. Trotzdem bin ich natürlich nicht so blöd, mich näher darauf einzulassen.
    Alle drei Monate bekomme ich Besuch von meiner Tante Edie. Das bedeutet einen ziemlichen Aufwand für sie, denn sie ist so arm, wie meine Eltern reich sind. Sie ist zwar nicht bettelarm, aber jede Reise ist Luxus für sie. Als ich zehn war, wollte sie mich zu sich nehmen, aber wahrscheinlich kam sie nicht gegen die Anwälte meiner Eltern an, und es wurde nichts draus. Dafür erzählt sie mir bei jedem Besuch, wie lieb sie mich hat, und jedes Mal, wenn ich sie
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