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Ein Tag ohne Zufall

Ein Tag ohne Zufall

Titel: Ein Tag ohne Zufall
Autoren: Pearson Mary E.
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frage, wieso meine Eltern nicht erlauben, dass ich zu Hause wohne, wendet sie sich ab und tupft sich die Augen. Ich frage sie nicht mehr danach. Ich freue mich auf ihre Besuche und kann sie nicht weinen sehen. Ich kann niemanden weinen sehen, und ich weine auch selber nicht. Es bringt nichts. Das habe ich schon mit sieben festgestellt.
    Es klingelt zum Frühstück, jemand läuft draußen den Flur entlang.
    Mira streckt den Kopf durch die Tür. »Frühstück, Des!«, ruft sie und geht eilig weiter.
    Als ob ich das nicht wüsste.
    Als ich noch nicht lange hier war, hat es mich ganz irre gemacht, dass mich Mira jeden Tag ans Frühstück erinnert. Am vierten Tag bin ich ausgerastet und hab ihr eine gescheuert. Das war nicht okay, aber ich war auch noch nicht richtig angekommen. Ich dachte, das schreckt sie ab, aber nein, am nächsten Morgen streckte sie wieder den Kopf zur Tür herein, und da habe ich begriffen, dass sie irgendwie nicht anders kann. Wenn nicht mal eine aufgeplatzte Lippe sie davon abhält … Weil sie mich immerhin nicht verpetzt hat, dulde ich ihr tägliches Eindringen inzwischen. Man regt sich ja auch nicht auf, wenn einem der Zeitungsbote die Zeitung vor die Haustür pfeffert. Inzwischen habe ich das Ritual durch meine immer gleiche Antwort sogar ein bisschen ausgebaut.
    »Bin schon unterwegs, Mira.« Diese kleine Entschädigung für jemanden, der wegen einer blutigen Lippe keinen Aufstand macht, tut mir schließlich nicht weh.
    Ich stecke das Laken unter der Matratze fest und die Decke auch, wobei ich die Ecken ordentlich einschlage, wie es mir Tante Edie irgendwann beigebracht hat. Sie kommt heute nach dem Unterricht und bleibt bis übermorgen. Mrs Wicket weiß, dass Tante Edie knapp bei Kasse ist, und lässt sie in einem leerstehenden Zimmer über dem alten Kutscherschuppen übernachten. Das verstößt zwar gegen die Schulordnung, aber Mrs Wicket mag Tante Edie gern, und mich mag sie vermutlich auch, frag mich nicht, wieso. Ich rufe noch mal kurz im Sekretariat an und erinnere daran, dass sich meine Tante für heute angesagt hat, dann stecke ich die Hand in das Wasserglas auf meinem Nachttisch und fahre mir, statt mich richtig zu kämmen, mit den Fingern durch die kurzen schwarzen Locken.
    Bevor ich zum Frühstück gehe, werfe ich noch mal einen Blick auf den Kalender. Ich bin schon ganz schön lange hier. So lange war ich noch nirgends. Bestimmt bekomme ich bald eine Mitteilung, dass ich woandershin soll. Wohin wohl? Lieber nicht drüber nachdenken. Darüber nachzudenken würde ja bedeuten, dass es mir etwas ausmacht, aber es macht mir nichts aus. Ich reiße den neunzehnten Oktober ab, knülle das Blatt zusammen und schmeiße es in den Müll. Es kommt mir fast verboten vor, einen Tag wegzuschmeißen, der noch gar nicht richtig angefangen hat. Bei der Vorstellung, wie leicht es ist, in mein Schicksal einzugreifen, muss ich unwillkürlich grinsen.

2
    »Der Haferbrei ist heute klumpig.«
    Ich lasse drei Löffel davon in meine Schüssel fallen und gieße mehr Milch obendrauf. Klar ist der Haferbrei klumpig, das ist jeden Morgen so. Mira könnte sich mal etwas Neues einfallen lassen. Aber ich gehe wie immer ausführlich darauf ein, damit sie sich nicht auch noch wiederholt.
    »Hm-hm.«
    Der Speisesaal ist ungewöhnlich leer. In Hedgebrook gibt es drei Speisesäle: einen großen, in den alle vierhundertzwanzig Schüler reinpassen, und die zwei kleineren neben der Küche. Meistens esse ich zusammen mit acht, neun anderen Schülern im kleinsten Saal. Die Einrichtung ist schlicht, ein großer, zweckmäßiger Holztisch mit robusten Stühlen drum herum. Ich stelle meine Schüssel und mein Glas Saft auf den Tisch.
    Ich setze mich zwischen Curtis und Jillian, gegenüber sitzen Mira, Aidan und Ben. Am Tischende hat Mrs Wicket Platz genommen. Mit einer Hand blättert sie die Zeitung durch, mit der anderen führt sie ihren Toast zum Mund, und zwischendurch begrüßt sie die eintretenden Schüler. Wenn das nicht Multitasking ist!
    »Guten Morgen, Destiny.«
    »Man spricht nicht mit vollem Mund, Mrs Wicket.«
    »Was du nicht sagst. Ausgeschlafen?«
    »Wo sind denn die anderen?« Damit meine ich unsere übliche Runde. Ich zermansche die Haferbreiklumpen mit dem Löffel, und ein bisschen Milch kleckert auf den Tisch.
    »Isabel ist krank. Ein grippaler Infekt, nicht so schlimm, aber sie soll trotzdem auf ihrem Zimmer bleiben«, antwortet Mrs Wicket.
    »Isabel ist doch nie krank«, sagt Jillian.
    »Außerdem muss sie
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