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Der Mann, der nicht geboren wurde

Der Mann, der nicht geboren wurde

Titel: Der Mann, der nicht geboren wurde
Autoren: Tobias O. Meißner
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Prolog
    Am letzten Morgen seines Lebens
fühlte Eljazokad sich so gut wie schon lange nicht mehr.
    Man schrieb den 22. Blättermond, und der Herbst zeigte sich in seiner
buntesten Pracht. Der Bauernjunge Taulle aus Anfest schlief noch auf einem
Lager aus Herbstlaub.
    Eljazokad setzte sich auf, streckte
die Arme von sich, um den Schlaf aus den Gliedern zu drängen, und dachte zurück
an das Bachmufest, das er in dem Dorf verbracht hatte. Da war er erst wenige
Tage in Anfest gewesen, hatte die Fürsorglichkeit der hübschen Heilerin Maeredi
genossen und sich überwiegend seinem zerstörten Bein gewidmet. Seine neuen
heilmagischen Fähigkeiten, die er im Geweihwasserdorf von der Weisen Zetaete
beigebracht bekommen hatte, unterstützen den Genesungsprozess ganz entscheidend.
Ohne Magie wäre das Bein nicht mehr zu retten gewesen, aber indem er aus seinen
eigenen Händen Energie in die Wunden flutete, aus seinem Leib einen sich selbst
versorgenden Kreislauf machte, trieb er die Heilung voran. Und als draußen die
Flöten zu spielen begannen, die laubbekränzten Mädchen in goldfarbenen
Gewändern tanzten und Bratenduft sich mit Kartoffelschalenrauch und würzigem
Schaumbier zu einer unwiderstehlichen Mischung vereinte, da hatte es Eljazokad
nicht mehr ausgehalten auf seinem Krankenlager und sich zumindest bis zum
Fenster geschleppt. Maeredi hatte zuerst ein empörtes Gesicht gemacht, doch
dann hatte sie ihn untergehakt und ihm ins Freie geholfen, zu einer Bank, die
dort stand, nicht viel mehr als ein der Länge nach halbierter Baumstamm, und
dennoch ein Nistplatz der Sonnenstrahlen.
    Eljazokad hatte gebadet in diesem
Licht.
    Die Sonne des Kontinents konnte seine magische Energie nicht so
auftanken, wie die künstlich erzeugte Sonne Melronias das vermocht hatte, aber
dennoch hatte Eljazokad das Gefühl, dass seine Lichtmagie nun überwiegend darin
bestand, Licht aufzunehmen und dann in heilende Wärme zu überführen. Es war
schwer zu beschreiben, also bereute er nicht, dass er all sein Schreibzeug
Bestar und Tjarka mitgegeben hatte.
    Maeredi hatte ihm ein winziges Bier, eine köstlich dampfende
Backkartoffel mit Kräuterquark und einen Ast voller Stockbrot besorgt, die
Jungen hatten aufgespielt, die Mädchen waren im Ringelreihen durchs Dorf
getanzt und hatten überall goldenes Laub gestreut. Gebetet hatte niemand. Auf
dem Kontinent waren die Götter eher durch ihre Festlichkeiten geläufig
geblieben, außerhalb von Tempeln spielte der Glaube nur noch eine kleine Rolle.
    Auf dem Bachmufest wie heute auch hatte Eljazokad nachgedacht über
seine vier Jahre unter den mandeläugigen, freundlichen Menschen des
Geweihwasserdorfes. Wie seltsam es eigentlich gewesen war, dass er sich in
diesen vier Jahren nicht eine einzige Frau erwählt hatte. Die Frauen waren
ausgesprochen hübsch mit ihren langen, mattschwarzen Haaren und der Haut, deren
Farbe ein wenig dunkler war als seine. Aber er hatte den Großteil seiner Zeit
mit der Weisen Zetaete verbracht, einer runzligen Großmutter mit einem ganz
kleinen, niedlichen Gesicht. Sie war seine Lehrerin gewesen. Seine Mutter, bei seiner
neuen Geburt als Heilmagier. Seine Vertraute, denn mit ihr konnte er über alles
sprechen, was ihn bedrückte.
    Sie lebte nicht mehr. Der Wolf hatte sie gerissen.
    Damals auf dem Bachmufest wie heute Morgen auch faltete Eljazokad
seine Hände ineinander und sprach ein kurzes Gebet für Zetaete. Wenn ein Tag so
sonnenreich und mild war wie dieser, sollte ihre jäh aus dem Leben gerissene,
gute, alte Seele daran teilhaben.
    Schon am fünften Tag seines
Aufenthaltes in Anfest konnte Eljazokad aus eigener Kraft erste Gehversuche
machen. Maeredi hatte sich gleichzeitig erfreut und besorgt gezeigt über die
schnellen Fortschritte. »Bestar und Tjarka sind jetzt wahrscheinlich in Brissen
angekommen«, hatte Eljazokad sich immer wieder vorgerechnet. »Sie haben fünf
Tage Vorsprung. Aber wenn ich ihnen jetzt schon hinterherreisen könnte, würde
ich vielleicht noch rechtzeitig zu Naenns Niederkunft in Warchaim sein. Mit
meinen neuen Fähigkeiten kann ich ihr beistehen, falls es schwierig wird. Sie
ist ja noch so jung, und es ist ihr erstes Kind.« Darüber hinaus hatte er das
Gefühl, dass es ein bedeutsamer Moment wäre, wenn ein Wolfsschmetterling das Licht der
Welt erblickte. Zu gerne hätte er das miterlebt.
    Maeredi hatte ihn gebremst. Dem
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