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Ein Tag ohne Zufall

Ein Tag ohne Zufall

Titel: Ein Tag ohne Zufall
Autoren: Pearson Mary E.
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entwickelt sich genau so, wie ich geahnt habe. Ich wende mich schon kopfschüttelnd zum Gehen, da regt sich etwas hinter Angus’ Sockel. Was ist das? Ich kneife die Augen zusammen … ein Fuß! Ein träge vor sich hinwackelnder Fuß. Also da steckt der Faulpelz! Ich renne hin, lasse mich auf die Knie fallen und packe Seth mit beiden Händen am T-Shirt.
    »He, mach mal Pause! Unser Auto steht hinten. Kannst du fahren?«
    Er starrt mich mit aufgerissenen Augen an, als hätte ich ihn beim Nichtstun ertappt, was ja auch der Fall ist. »Bist du …«
    »Ich brauch einen Fahrer! Kannst du mich fahren? Bitte!«
    Er sieht mich an wie eine Geisteskranke. »Ich hab Abfalldienst …«
    »Aber du hast einen Zusatzpunkt verdient, das weißt du doch. Nur eine kleine Runde drehen … mehr will ich ja gar nicht.«
    Er kriegt sich wieder ein, steht auf, schiebt meine Hände weg und streicht sich das T-Shirt glatt. Als wir uns gegenüberstehen, bin ich verblüfft, wie groß er ist. Er sieht mich an, und ich weiß, gleich sagt er nein, aber ich drehe mich nicht weg und weiche seinem Blick nicht aus, denn seit mich Mira verdächtigt, heimlich in ihn verknallt zu sein, habe ich ihn absichtlich ignoriert, und jetzt fällt mir zum ersten Mal auf, dass er goldbraune Augen mit dunkelbraunem Rand hat, was ich wahnsinnig spannend finde, weil ich genau die gleiche Augenfarbe habe, und ich glaube, ihm fällt es auch auf, und es überläuft mich kalt, und dann geschieht ein Wunder, denn er sagt: »Na, dann komm.«
     
    »Du hast einen guten Geschmack, Des, das muss man dir lassen.«
    »Ich hab mir das Auto nicht ausgesucht … das Auto hat
mich
ausgesucht.«
    Seth streicht über die Kühlerhaube und den Kotflügel und geht dabei um das Auto herum, bis er vor der offenen Fahrertür steht. »Aber nur eine kleine Runde … okay?«
    »Okay.« Ich weiß, dass es jetzt schon mehr als das ist. Das verraten mir das heutige Datum und unsere so ähnlichen Augen. Seth kann sich diesen Übereinstimmungen ebenso wenig entziehen wie ich.
    Noch einmal schauen wir uns nach allen Seiten um, dann steigen wir ein. Die weißen Ledersitze sind so herrlich glatt wie die Kotflügel, und Seth reckt triumphierend die Faust. »Wer hätte gedacht, dass Abfalldienst so viel Spaß machen kann!« Er schließt behutsam die Wagentür, und es kommt mir vor, als ob er damit die ganze Welt um uns herum ausschließen würde.
    Das Blut rauscht mir in den Ohren. »Fahr!«, sage ich leise. »Fahr los!«
    Seth tritt aufs Gas, und wir machen einen Satz nach vorn, quer über den Rasen und dann auf den schmalen Weg, der sich über das Schulgelände schlängelt. Bevor wir an Gaspar Hall vorbeikommen, bremst Seth, denn dort gehen die Fenster der Klassenzimmer zur Straße raus. Seth sieht mich fragend an. Dann rutschen wir wie auf Kommando in den Sitzen nach unten, und er fährt langsam und leise weiter, als ob das Auto auf Zehenspitzen schleichen würde.
    Trotzdem drehen sich die Schüler, die am Fenster sitzen, nach uns um. Ihre Augen werden groß wie Untertassen, aber keiner von ihnen verrät uns. Staatsbürgerkunde. Englische Literatur. Jillian und Curtis drehen sich gleichzeitig um, ihnen fällt die Kinnlade runter. Mathe. Seth winkt Justin Thomas zu, als würde er ihm zufällig auf der Straße begegnen. Wirtschaft. Physik. Mira. Sie reißt die Augen derart weit auf, dass die Iris einem winzigen Tintenklecks in einem Meer von Weiß gleicht. Dann verschwindet sie vom Fenster. »Gib lieber Gas«, sage ich.
    »Reg dich ab. Alles ist gut.«
    Eigentlich kenne ich Seth gar nicht richtig. Ich kenne seine Frühstücksgewohnheiten, wie die der anderen auch. Er kommt immer zu spät. Er gibt sich mächtig Mühe, Mrs Wicket zum Schmunzeln zu bringen, als wäre es für ihn ein ausgeklügeltes Spiel. Zwischen zwei Bissen klopft er mit der Gabel auf den Teller, was Aidan zur Weißglut treibt.
    Trotzdem habe ich keinen blassen Schimmer, was in ihm vorgeht. Ich kenne weder seine Vorlieben noch seine Abneigungen und Ängste, überhaupt fällt mir auf, dass ich trotz meiner Beobachtungsgabe – auf die ich sehr stolz bin – eigentlich keinen meiner Klassenkameraden richtig kenne, von Äußerlichkeiten und irgendwelchen Ticks mal abgesehen. Wieder spüre ich einen Kloß im Hals.
    »Kann ich mitfahren?« Mira kommt um die Ecke geflitzt, und Seth tritt auf die Bremse.
    »Schrei nicht so!«, sagt er.
    »Hat Miss Boggs mitgekriegt, dass du gegangen bist?«, frage ich im Flüsterton.
    »Quatsch!«
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