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Ein Tag ohne Zufall

Ein Tag ohne Zufall

Titel: Ein Tag ohne Zufall
Autoren: Pearson Mary E.
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dich wieder jemand wegen deinem Nasenbluten geärgert?«, erkundigt sich Mira. Ihr Mitgefühl ist nicht gespielt, Mira kann sich gar nicht verstellen.
    Aidan wirft ihr einen bösen Blick zu. Nanu! Ich dachte, er hätte sich mit seiner Außenseiterrolle abgefunden. Ich hatte den Eindruck, dass er diese Rolle inzwischen ganz bewusst ausfüllt, schließlich trägt er sogar freitags die Krawatte zur Schuluniform, wenn wir sie laut Schulordnung weglassen dürfen.
    »Deine Nase blutet nicht mehr«, sage ich. »Kannst das Taschentuch wegschmeißen.« Aidan faltet das Taschentuch mit den Flecken nach innen sorgfältig zusammen und steckt es ein.
    »Und jetzt?« Seth wirft durch die Speichen des Lenkrads einen Blick auf die Benzinanzeige. »Sollen wir umkehren?«
    »Bloß nicht!« Mira ist wieder aufgesprungen. Sie klingt so flehend, dass wir uns alle nach ihr umdrehen. Sie zuckt verlegen die Achseln und setzt sich wieder hin. »’tschuldigung«, sagt sie leise. »Ich würde lieber noch ein bisschen weiterfahren, wollte ich sagen.«
    »Ich auch«, stimmt ihr Aidan zu. »Wir kriegen sowieso alle Abfalldienst aufgebrummt, dann soll es sich wenigstens lohnen. Ich brauch mal eine kleine Auszeit. Wenn ich Präsident wäre und in diesem Land das Sagen hätte, würde ich einführen, dass alle mehr Ferien haben. Habt ihr gewusst, dass die Leute in anderen Ländern viel mehr Urlaub haben und trotzdem bessere Leistungen erbringen? Das liegt daran, dass …«
    »Wir haben’s kapiert, Herr Präsident.« Ich habe keine Lust auf eine von Aidans Vorlesungen. Es reicht schon, dass er mitfährt. Dabei haben er und Mira sich beim Frühstück noch benommen wie immer.
    »Und wo
ich
heute schon Abfalldienst habe, kann ich mir genauso gut noch einen richtigen Verstoß gegen die Schulordnung leisten«, meint Seth.
    »Mit Abfalldienst ist es vielleicht nicht getan«, entgegne ich. »Womöglich fliegen wir alle vier von der Schule.«
    Daraufhin sind erst mal alle still. Bis Seth anfängt, rhythmisch auf die Hupe zu drücken. »Was soll das?«, frage ich.
    »Das ist ein Song.
On the Road again …
«
    Aidan schnaubt, ich schüttle den Kopf. Mira grinst und klopft den Takt auf dem Sitz mit.
»I just can’t wait to be on the road again!«
    »Wir machen ja bloß eine kleine Spritztour«, sagt Seth.
    »Ich finde, unsere Unternehmung braucht einen Namen! ›Eine kleine Spritztour‹ passt doch super!«, jubelt Mira.
    »Dann geht das also klar?«, vergewissert sich Seth.
    Damit wären wir offiziell Komplizen … Komplizen auf engstem Raum, der keine Verstellung, kein Verstecken zulässt … ganz schön riskant. Für mich viel riskanter, als mit einem fremden Auto abzuhauen. Als ich acht war, hab ich mal in die Glut von einem Kamin gefasst. Das rote Leuchten hat mich unwiderstehlich angezogen. Daran muss ich jetzt denken. Wie damals kann ich der Gefahr einfach nicht widerstehen. Und die Gefahr ist nicht der Rauswurf aus dem Internat, an so was bin ich inzwischen gewöhnt.
    Die anderen sehen mich gespannt an. Schon das drückt mir wie ein eiserner Griff die Brust zusammen. Sie wissen ja nicht, dass an einem Tag wie heute alles schieflaufen
muss
. Erst recht, wenn sie mit mir unterwegs sind.
    Aber sie sehen mich so erwartungsvoll an, als gäbe meine Entscheidung den Ausschlag. Auf einmal spüre ich eine geradezu berauschende Leichtigkeit, eine Leichtigkeit, wie ich sie seit den letzten Tagen in Millbury nicht mehr gespürt habe. Bevor ich es mir anders überlegen kann, platze ich heraus: »Einverstanden!«

5
    Ich ging noch auf die Millbury-Schule, als mir Mr Anwalter einen Prospekt von Hedgebrook schickte. Mr Anwalter ist der Privatsekretär meiner Eltern und erledigt für sie die Drecksarbeit. Dazu gehört auch alles, was mich betrifft.
    Als ich den Umschlag aufriss und das Foto vorn auf dem Flyer sah, musste ich mich setzen. Ich hielt mir den Magen, massierte mir den Bauch. Ich starrte die Bilder ungläubig an. Wogende grüne Hügel. Weiße Holzzäune. Ein hohes rotes Backsteingebäude. Hohe weiße Säulen und schwarz gestrichene Fensterläden. Die Landschaft und die Bauweise meiner Heimat. Jedenfalls in meiner Erinnerung.
    Ich weiß noch, wie ich den Atem anhielt und die Hände flach auf die Brust drückte, weil ich plötzlich so ein komisches Flattern spürte, das mir Angst machte. Ich konnte erst wieder ausatmen, als ich begriff, dass sich einfach nur dort etwas regte, wo vorher alles tot gewesen war. Ich klappte den Prospekt zu und schob ihn in
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