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Malka Mai

Malka Mai

Titel: Malka Mai
Autoren: Mirjam Pressler
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September
    Der Tag, an dem alles begann , unterschied sich in nichts von den Tagen vorher, außer dass er vielleicht noch ein bisschen heißer war. Malka merkte es sofort, als sie die Augen aufschlug. Die Sonne schien grell durch den Blumenvorhang und warf bunte, verzerrte Flecken auf ihre weiße Zudecke. Als sie den Finger auf eine blaue Blüte schob, färbte sich ihr Fingernagel bläulich und grüne Streifen wellten sich über ihren Handrücken. Sie tippte mit dem Finger in die bunten Flecken und beobachtete, wie die leuchtenden Farben auf ihrer bräunlichen Haut matter und stumpfer wurden.
    Vertraute Geräusche drangen in ihr Zimmer. Vor ihrem Fenster, nur ein paar Meter vom Haus entfernt, plätscherte der Bach. Jetzt, nach einem langen, trockenen Sommer, war er so flach, dass man die Steine im Bachbett genau sehen konnte, die Fische, die durch das Wasser schossen und im Ufergras verschwanden. Malka saß oft am Bach, warf abgerissene Blüten oder Blätter ins Wasser und beobachtete, wie sie strudelnd davontrieben, bis sie hinter dem Wacholderbusch verschwanden. Manchmal, an besonders heißen Tagen, badete Malka sogar im Bach, obwohl sein Wasser, das hoch aus den Bergen kam, auch im Sommer kalt war. Sie wagte sich allerdings nur hinein, wenn jemand dabei war, entweder Minna, ihre große Schwester, oder ihre Mutter. Es brauchte ihr niemand mehr zu verbieten, allein ins Wasser zu gehen, sie würde jenen Tag zu Beginn des letzten Winters nie vergessen, den Tag, an dem sie fast ertrunken wäre.
    Draußen auf der Straße holperte ein Pferdefuhrwerk vorbei. Die mit Eisenringen beschlagenen Holzräder rumpelten über die Steine. Malka lauschte. Am Hufgetrappel hörte sie, dass nur ein einzelnes Pferd vor den Wagen gespannt war, es war also nicht Jankel, der fahrende Händler, der oft Dinge anbot, die man, seit der Krieg angefangen hatte, nicht mehr so leicht bekam. Er war schon lange nicht mehr hier gewesen, bestimmt schon mehrere Wochen nicht, das hatte Minna neulich auch gesagt. Wir haben nur noch ein Stück Veilchenseife, hatte sie gesagt, es wird Zeit, dass Jankel wiederkommt.
    Unten in der Küche klapperte jemand mit Geschirr, dann fiel ein Eimer scheppernd auf die Steinfliesen. Das war ihre Mutter oder Minna. Zofia, das letzte Hausmädchen, war schon vor Monaten weggegangen, zurück zu ihren Eltern nach Wyszków, weil die gnädige Frau Doktor ihr keinen Lohn mehr bezahlen konnte und weil ein christliches Mädchen sowieso nicht bei Juden im Haushalt arbeiten durfte, auch wenn kein Mann im Haus war. Alle hatten ihr Weggehen bedauert, vor allem Minna, die sich mit ihr angefreundet hatte. Zofia war freundlicher und fröhlicher gewesen als viele ihrer Vorgängerinnen, und auch gescheiter, hatte Minna gesagt. Beide Mädchen hatten beim Abschied geweint und Minna war danach schweigsam und mürrisch geworden.
    Zofia war nett gewesen, aber Malka trauerte immer noch Olga nach, der Krankenschwester, die lange im Ambulatorium ihrer Mutter gearbeitet hatte. Damals, an jenem Tag, als die Deutschen gekommen waren, hatte Olga überstürzt das Haus verlassen und war mit den abziehenden Russen verschwunden. Malka tippte mit dem Zeigefinger auf einen blauen Fleck. Olga hatte blaue Augen gehabt, richtig blaue, nicht so verwaschen blaugraue wie Minna und wie ihre Mutter. Leise summte Malka ein Lied vor sich hin, das sie von Olga gelernt hatte. »Völker, hört die Signale, auf zum letzten Gefecht, die Internationale erkämpft des Menschen Recht.« Wie immer versuchte sie Olgas Stimme nachzuahmen, an deren sanften, tiefen Klang sie sich noch genau erinnerte, aber es gelang ihr nicht, bei ihr hörte sich die Melodie dünn und falsch an, so dass sie bald wieder aufhörte zu singen.
    Nach einer Weile wurde Malka das Spiel langweilig. Die Sonne stand jetzt höher, die Flecken, die sie auf die Decke warf, verblassten. Malka sprang aus dem Bett und schlüpfte in das Kleid, das Henja, die Näherin, ihr zu Beginn des Sommers aus einer abgetrennten Bahn des Vorhangs genäht hatte, weil man schon lange keine neuen Stoffe mehr bekommen konnte. Das Kleid war sehr schön und es wäre noch schöner gewesen, wenn dieser blöde gelbe Stern nicht gewesen wäre. Malka bemühte sich immer, ihn zu übersehen, nachdem sie erst gejammert und geweint und gebettelt hatte, man möge ihn ihr wieder abtrennen. Aber sowohl ihre Mutter als auch Minna hatten gesagt, das sei ausgeschlossen, solange die Deutschen hier wären, müsse sie den Stern tragen.
    Malka hockte
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