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Malka Mai

Malka Mai

Titel: Malka Mai
Autoren: Mirjam Pressler
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sich auf den Boden und zog ihre Sandalen an. Die waren auch von den Deutschen, Holzsandalen mit langen, roten Schnüren, die kreuzweise bis halb über die Unterschenkel gewickelt und dann mit einer Schleife zugebunden wurden. Sie waren noch sehr neu, diese Sandalen, vor kurzem erst hatte Frau Schneider sie ihr geschenkt, zusammen mit einem Glas Aprikosenmarmelade, als sie von einer Reise nach Deutschland zurückgekommen war. Noch nie hatte Malka so schöne Schuhe besessen. Sie lachte vor Vergnügen. Frau Schneider schenkte ihr oft etwas, wenn sie zu der Villa unten an der Straße ging, um mit Veronika zu spielen. Die Deutschen hatten den Stern gebracht, als die Russen weggezogen waren, aber ansonsten war alles nicht so schlimm geworden, wie es die Leute damals gesagt hatten.
    Malka lief die Treppe hinunter in die Küche. Sie aß das Butterbrot mit Aprikosenmarmelade, das Minna ihr hingestellt hatte, trank, schon halb im Stehen, ihre Milch und rannte aus der Küche. »Vergiss nicht, dass du heute Nachmittag zu Fräulein Lemberger musst«, rief Minna ihr nach.
    »Vergesse ich nicht«, antwortete Malka, hüpfte mit beiden Füßen gleichzeitig über die Schwelle und lief die Straße hinunter zu dem großen Haus, in dem Veronika wohnte.
    Als die Küchentür laut ins Schloss fiel, schreckte Hanna Mai, Malkas Mutter, aus ihren Gedanken hoch. Sie saß unten im Ambulatorium an ihrem Tisch. Seit man ihr die Lizenz als Kreisärztin entzogen hatte, bekam sie kein Gehalt mehr. Aber da weit und breit kein Arzt lebte, wurde sie weiterhin gerufen, wenn es nötig war. Doch das kam immer seltener vor und sie hatte oft mehr Zeit, als ihr lieb war. Automatisch schaute sie auf ihre Armbanduhr. Zehn nach neun. Um elf würde sie zum Judenviertel gehen, auf der anderen Seite des Städtchens, und nach der Frau des Schusters sehen, die vor drei Tagen einen Sohn geboren hatte. Bis dahin blieb ihr nichts anderes übrig, als hier zu sitzen und zu warten. Sie seufzte. Sie fühlte sich als Opfer der Umstände, die sie zur Untätigkeit zwangen, ein Opfer der Zeit, und diese Rolle passte ihr nicht. Sie vermisste die langen Reisen durch ihren Bezirk, die Arbeit, die Herausforderungen. Manchmal fühlte sie sich fast eingesperrt hier in diesem Haus, in diesem gottverlassenen Nest nahe der ungarischen Grenze, und ihre Gefängniswärter waren die Deutschen.
    Sie hörte Minna in der Küche herumarbeiten, ungeduldig und nachlässig, und seufzte wieder. Kein Wunder, dass Minna so mürrisch war, eine Sechzehnjährige ohne Gesellschaft, ohne wirkliche Freunde, ohne die Möglichkeit, einen richtigen Beruf zu erlernen. Minna war in einem schwierigen Alter, und seit Zofia weggegangen war, war alles nur noch schlimmer geworden.
    Hanna ballte ein paar Mal die Hände zu Fäusten, dann streckte sie die Finger aus und betrachtete aufmerksam ihre sorgfältig geschnittenen Nägel, bevor sie die Schreibtischschublade aufzog und den Brief herausnahm. Seit Wochen tat sie das einmal, zweimal, dreimal am Tag, las immer wieder die Worte, die ihr Vater geschrieben hatte, starrte immer wieder die beiden Fotos an. Auf dem einen Bild sah ihr Vater aus, wie sie ihn kannte, ein frommer Jude mit Pejes 1) und Bart, mit hochgeschlossenem Kaftan 2) und einem runden, schwarzen Hut auf dem Kopf. Ein ernster und würdiger älterer Herr. Aber von dem anderen Bild blickte ihr ein fremder Mann entgegen, mit einem alten, mageren, nackten Gesicht, ohne Pejes und ohne Bart. Das fliehende Kinn, das vorher unter seinem Bart versteckt gewesen war, ließ ihn unscheinbar aussehen, verschreckt, hilflos.
    1) Pejes: Schläfenlocken.
    2) Kaftan: langes, enges, vorne geknöpftes Obergewand frommer Juden.
    Liebe Hanju, hatte er geschrieben, ich danke dir für die Umzugsgenehmigung, die ich vor einigen Tagen erhalten habe, aber ich werde nicht zu dir kommen, ich bleibe hier, bei deiner Schwester und ihrer Familie, so wie deine Mutter, ihr Angedenken gereiche uns zum Segen, es gewollt hätte. Man lässt einen Menschen in Not nicht im Stich.
    Hanna überlegte, ob diese Worte nur eine Variante des alten Vorwurfs waren, weil sie weggegangen war, um zu studieren, um ihr eigenes Leben zu führen, ohne Rücksicht auf ihre Eltern und die Familie. Vielleicht. Er hatte es ihr nie verziehen.
    Hanna hatte die Arme aufgestützt und starrte immer noch die beiden Fotos an, als an die Tür geklopft wurde. Schnell und mit rotem Kopf, als wäre sie bei etwas Unrechtem ertappt worden, schob sie den Brief und die Fotos in
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