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Ein Berliner Junge

Ein Berliner Junge

Titel: Ein Berliner Junge
Autoren: Adolf Damaschke
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Kindheit Rosenthaler Straße 39
     
    In der Rosenthaler Straße 39 wurde ich am 24. November 1865 geboren. Die Straße, die am Hackeschen Markt beginnt, ist eine der belebtesten des Berliner Zentrums. Das Haus Nr. 39 bestand aus einem Vorderhaus, in dem sich im Erdgeschoß das Möbellager von Dessin befand, darüber einige Wohnungen. Aus dem Hausflur ging eine tiefe Treppe hinab zu einem Budikerkeller. Trotzdem wir die ersten zehn Jahre meines Lebens in dem Hause wohnten, kann ich mich nicht entsinnen, mehr als zweimal in diesem Keller gewesen zu sein, und dann auch nur, um Bestellungen auszurichten. An das Vorderhaus schloß sich ein langer Seitenflügel. Der Hof war schmal. Er wurde gegen das Nachbarhaus durch eine hohe, kahle Mauer, die heute niedergelegt ist, abgeschlossen. Am Ende des Hofes, der uns Kindern endlos lang vorkam, war geradezu der Eingang zu »Fritz Kellers Gartenlokal«, links davon bildete ein zweiter Hausflur die Verbindung zum Hinteren Hof. Von diesem dunklen Hausflur führte links eine Treppe ab, die auch beim lichtesten Tage nie von einem Lichtstrahl erreicht wurde. Auf ihr kam man zunächst in eine große Tischlerwerkstatt, dann zur Wohnung und Werkstatt eines Tapezierers. Im zweiten Stock lag unsere Werkstatt und Wohnung. Auf dem zweiten Hof war eine Wagenremise, der Stall für die Pferde des Möbellagers Dessin, ein Heuboden und eine Reihe von Aborten; denn Wasserklosetts wie heute gab es noch nicht, am wenigsten in Hofwohnungen.
    Von unseren Nachbarn in diesem Hinterhause kann ich aus frühester Jugend mich noch eines Schlossers Sommer erinnern. Sein einziger Sohn war wohl fünf oder sechs Jahre älter als ich. Der Mann verunglückte tödlich, und die Leiche wurde in dem Waschkeller aufgebahrt. Ich weiß noch, wie es mir durch und durch ging, als ich mit dem Sohne des Toten durch die halbgeöffnete Tür zu dem Sarg hinübersah und der Junge weiter nichts zu sagen hatte als: »Jetzt kann ich mir Bonbons kaufen und Zigarren, soviel ich will; jetzt kann er es nicht mehr verbieten!«
     
     
    * * *
     

Geschwister
     
    Meinen Eltern wurde 1860 ihr ältester Sohn Gustav geboren. Ein Zwillingspaar, ein Knabe und ein Mädchen, folgte 1862. Der Knabe starb nach einigen Monaten; die Schwester Anna nach zwei Jahren. Mutter hat an diesem Verlust schwer getragen. Oft erzählte sie, Anna sei so schön gewesen, daß die Leute auf der Straße sich nach ihr umgesehen hätten, wenn sie mit dem Kinde vorübergegangen wäre. Ich habe es immer als einen großen Mangel empfunden, daß ich keine Schwester hatte. Es wird ein ganz anderes Verhältnis zum andern Geschlecht, wenn man schon in derselben Familie etwas von dem Kriegführen unter den Geschlechtern von früh auf lernt. Mit manchem Nimbus verschwindet doch auch manche verzerrte Auffassung in solchem Kleinkrieg geschwisterlicher Liebe.
     
     
    * * *
     

Kurzsichtig
     
    Als ich geboren war, weinte Mutter laut auf: »Der Junge hat ja keine Augen!« Aber die Hebamme beruhigte sie, ich wäre nur so dick, daß die Augen zugequollen wären. Ich weiß nicht, ob es damit irgendwie zusammenhängt, aber die Tatsache blieb: von Jugend an war ich als einziger in der Familie kurzsichtig. Ich empfand es lange als eine Art Anrecht, dessen ich mich zu schämen hätte, und verbarg es, leugnete es wohl ab, obgleich daraus in steigendem Maße Schwierigkeiten erwuchsen. Ich konnte die Normaluhr auf dem nahen Hackeschen Markt nicht erkennen, ebensowenig die Uhr der nahen Sophienkirche vom Rosenthaler Garten aus, was die Freunde einmal benutzten, mich vom Besuch der Nachmittagsschule abzuhalten, indem sie immer wieder beteuerten, es sei noch nicht Zeit. In der 58. Schule schickte mich der Lehrer als Klassenersten einmal auf den Flur, um zu sehen, ob die Schuluhr schon vier sei. Ich konnte sie nicht erkennen; aber ich schämte mich, es zu sagen, und da meine Neigung stark für Schulschluß war, erklärte ich, es wäre Zeit. Darauf wurde geläutet; alle Klassen traten zusammen. Aber es stellte sich heraus, daß noch eine Viertelstunde fehlte. Die Klassen brachten diese Zeit auf dem Hofe zu. Ich selbst aber konnte keine Erklärung für meine irreführende Angabe geben, da ich, wie gesagt, die Tatsache meiner Kurzsichtigkeit ängstlich verbarg. In der Schularbeit hat mir das insoweit geholfen, als ich von vornherein auf jedes Absehen von dem Nachbar verzichten mußte, was mir auf die Dauer zugute kam.
     
     
    * * *
     

Was sollte man sein?
     
    Eigentlich hatte ich - wie
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