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Malka Mai

Malka Mai

Titel: Malka Mai
Autoren: Mirjam Pressler
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Kalne zu gehen. »Und nehmt eure Jacken mit, es kann sein, dass wir erst am späten Abend oder nachts zurückkommen.«
    Dann ging sie ins Ambulatorium und machte, bevor sie nach ihrer Arzttasche griff, die Schreibtischschublade auf. Sie wollte den Brief ihres Vaters mit den beiden Fotos nicht hier lassen, denn sie hatte plötzlich die Vorstellung, die Deutschen könnten ihr Haus durchsuchen und den Brief finden, das wollte sie nicht. In der Schublade lagen auch ihre Papiere. Einer plötzlichen Eingebung folgend, steckte sie die Geburtsurkunden ihrer Kinder und ihre Approbation 5) in die Innentasche ihrer Jacke, zu ihrem Pass, den sie immer bei sich trug.
    5) Approbation: Um den Beruf als Arzt ausüben zu können, braucht man eine staatliche Zulassung, die so genannte Approbation.
    Als sie aus der Haustür trat, bog Malka um die Ecke. Sie sah bedrückt aus, aber Hanna konnte im Moment nur an ihren wunderbaren Plan denken. »Bitte nehmen Sie meine Kinder mit nach Kalne«, bat sie Frau Sawkowicza und sprang aufs Pferd. Sie sah noch, wie Minna ihrer widerstrebenden Schwester die Jacke aufdrängte, hörte Malkas wütendes »Nein, bei der Hitze, spinnst du?« und sah, wie Minna die Hand hob. Ob sie Malka wirklich eine Ohrfeige gab, sah sie aber nicht mehr, da war sie schon losgeritten.
    Der Kranke lag im Schlafzimmer im ersten Stock. Er hatte die Decke nur halb über den Körper gezogen, so dass das verletzte Bein frei lag, es war mithilfe einiger untergeschobener Tücher hochgelagert und mit einem weißen, sauber aussehenden Lappen umwickelt. Der große, rote Fleck und die blutigen Tücher, die neben dem Bett auf dem Boden lagen, zeigten, dass die Wunde nicht aufgehört hatte zu bluten. Hanna Mai nahm das Desinfektionsmittel aus dem Koffer, reinigte sich in der bereitstehenden Wasserschüssel die Hände und rieb sie dann gründlich mit dem Desinfektionsmittel ein, bevor sie den an den Wundrändern festgeklebten Lappen löste.
    Das Beil hatte den Oberschenkel etwa zehn Zentimeter oberhalb des Knies getroffen, die Wunde klaffte weit auseinander und fing außen schon an zu verkrusten, aber in der Mitte blutete sie noch immer. Hanna reinigte die Wunde und das Umfeld vorsichtig mit Jod. Der Bauer stöhnte, hielt aber das Bein ruhig. »Das muss genäht werden«, sagte Hanna. »Halten Sie das aus?« Das Gesicht des Mannes war grau, trotz der Sonnenbräune, aber er nickte und sie nähte die Wunde mit neun Stichen. Er schrie nicht, nur der Schweiß lief ihm von der Stirn und die Augen quollen ihm fast aus dem Kopf. Als sie den Verband angelegt hatte, griff er nach ihrer Hand und küsste sie dankbar.
    Erst jetzt, nachdem die Anspannung vorbei war, hörte Hanna die Stimmen, die durch das offene Fenster drangen, scharfe Befehle, laut, auf Deutsch, Schritte von vielen Füßen, ein Aufschrei, das Weinen eines Kindes. Hanna lief zum Fenster. Weiter unten auf der Straße, auf dem Platz vor der Kirche, drängten sich Menschen neben einem Fuhrwerk zusammen. Es waren Juden, mindestens fünf, sechs Familien, Männer, Frauen und Kinder, beladen mit großen und kleinen Bündeln. Die Ersten stiegen bereits auf das Fuhrwerk, das eigentlich viel zu klein war für so viele Menschen. Ein paar deutsche Soldaten bewachten sie und trieben sie zur Eile an.
    Zwei Offiziere standen daneben, einen von ihnen kannte Hanna. Es war Pucher, ein Offizier des Grenzschutzes, er litt an einer Furunkulose und sie hatte ihm im Winter mehrmals Geschwüre im Nacken aufgeschnitten. Bei ihm war sie sicher, dass er ihr wohlgesonnen war. Schnell lief sie die Treppe hinunter.
    Malka war müde und durstig , als sie endlich in Kalne ankamen. Und sie war wütend, weil Minna sie gezwungen hatte, bei dieser Hitze den langen Weg zu gehen. Unterwegs hatte sie so lange gemault, bis Minna ihr gereizt eine runtergehauen hatte. Danach hatte sie kein Wort mehr gesagt und war gekränkt hinter Minna und der Bäuerin hergetrottet. Nur als sie durch den Wald gegangen waren, hatte sie am Wegrand ein paar Glockenblumen für ihre Mutter gepflückt.
    Das Dorf war seltsam still, auf der Straße war kein Mensch zu sehen. Die Bäuerin blieb stehen, schaute sich um und lief dann schneller weiter. Malka musste fast rennen, um mit ihr und Minna Schritt zu halten. Als sie auf den Kirchplatz einbogen, sahen sie das Fuhrwerk und die Juden, die schweigend hinaufkletterten. Nur die Stimmen der Deutschen waren zu hören, ab und zu mal ein Aufschrei, wenn einer der Soldaten mit dem Gewehrkolben
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