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Malka Mai

Malka Mai

Titel: Malka Mai
Autoren: Mirjam Pressler
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»Du bist jetzt die Mutter und ich wäre der Vater«, sagte Veronika.
    Malka nickte. Sie konnte schon viele deutsche Wörter verstehen, zum Spielen reichten sie jedenfalls. Veronika sprach weder Polnisch noch Ukrainisch, nur Deutsch. Das war eine seltsame Sprache, ein bisschen wie die, die ihre Verwandten in Krakau sprachen. Malka zog Liesel den Strampelanzug aus, so dass die Puppe nur noch die Socken, die grüne gestrickte Unterhose und ein weißes Unterhemd anhatte, und wühlte im Puppenkoffer nach einem passenden Kleidungsstück.
    In diesem Moment trat Frau Schneider ins Zimmer. »Malka«, sagte sie, kam mit ein paar raschen Schritten näher und zog das Kind hoch. »Malka, du musst nach Hause gehen, du kannst nicht hier bleiben zum Spielen.«
    Malka starrte die Frau an. Das sommersprossige Gesicht sah auf einmal gar nicht mehr so freundlich aus, die rötlichen Augenbrauen stießen über der Nase fast zusammen.
    »Malka«, sagte Frau Schneider und ihre Stimme wurde etwas weicher. »Heute geht es nicht. Lauf heim zu deiner Mama.«
    Ihre Oberlippe war leicht hochgezogen, so dass man die schief stehenden Zähne sehen konnte. Veronika hob den Kopf und warf ihrer Mutter einen erstaunten Blick zu, aber sie protestierte nicht, sie spielte einfach weiter. Frau Schneider schob Malka auf den Flur und zur Hintertür. Die Sonne schien grell in Malkas Gesicht, als die Tür aufging. Dann stand sie hinter dem Haus. »Beeil dich«, sagte Frau Schneider noch. »Los, lauf.«
    Aber Malka beeilte sich nicht. Sie ging langsam, mit gesenktem Kopf, die Straße hinauf. Sie war gekränkt und wütend und trat nach einem Stein. Erst als er laut gegen das Tor der Kronowskis krachte, spürte Malka den Schmerz an ihrem Zeh. Tränen traten ihr in die Augen. Warum hatte Veronika nicht gesagt: Ich will aber, dass Malka dableibt? Bestimmt lag es an dem dummen Stern, dass Frau Schneider sie weggeschickt hatte. Seit sie den Stern tragen musste, spielten die polnischen und ukrainischen Kinder nicht mehr mit ihr. Sie deuteten mit den Fingern auf sie und schrien ihr »Jüdin, Jüdin« nach. Sie konnte nur noch mit Veronika spielen oder mit Chaja, der Tochter des Schochet 4) . Die trug selbst einen Stern. Malka bückte sich, um ihren schmerzenden Zeh zu reiben. In diesem Moment merkte sie, dass sie immer noch Liesels Arm umklammert hielt. Sie schaute sich schnell um, bevor sie die Puppe in ihre Rocktasche schob.
    4) Schochet: Metzger, der zum Verzehr bestimmte Tiere den religiösen Vorschriften entsprechend schächtet.
    Als Hanna Mai aus dem Haus trat , um Malka zu suchen, die verschwunden war, ohne Minna gesagt zu haben, wohin sie ging, hörte sie, dass jemand in scharfem Galopp den Hang heruntergeritten kam. Sie schaute hinüber. Die Frau auf dem Pferd hob den Arm und winkte, Hanna blieb stehen. Erst als das Pferd nahe genug war, erkannte sie die Reiterin. Es war Frau Sawkowicza, die Frau eines Bauern aus Kalne. Das Pferd schnaubte und hatte Schaum vor dem Mund, als Frau Sawkowicza es dicht vor ihr zügelte und aus dem Sattel rutschte. »Frau Doktor«, keuchte sie atemlos, »Sie müssen unbedingt zu meinem Mann kommen, er hat sich am Bein verletzt, beim Holzhacken, es ist eine große Wunde. Bitte, Frau Doktor. Ich lasse Ihnen das Pferd und gehe zu Fuß. Bitte, kommen Sie schnell, es ist dringend.«
    Hanna wusste sofort, was zu tun war, sie brauchte nicht lange nachzudenken. Es war eine ihrer Stärken, schnelle Entscheidungen zu treffen, und insgeheim verachtete sie alle Menschen, die eher zögerlich und langsam waren, wie ihre Schwester zum Beispiel. Und ihr Vater. »Bitte, Frau Doktor«, sagte die Bäuerin. Hanna lächelte ihr aufmunternd zu, ein professionelles Lächeln, das sie mühelos zustande brachte, egal an was sie eigentlich dachte. Natürlich war es ihre Pflicht, nach dem Verletzten zu schauen, und nicht nur Pflicht, sie liebte ihren Beruf und genoss es, gebraucht zu werden. Doch heute hatte sie das Gefühl, als sei ihr Frau Sawkowicza vom Himmel geschickt worden. Kalne war die Lösung, Kalne war viel besser, als sich heute Nachmittag bei christlichen Nachbarn zu verstecken. Sie würde mit Minna und Malka nach Kalne gehen und dort bleiben, bis die Luft in Lawoczne wieder rein war, notfalls auch bis zum nächsten oder übernächsten Tag. Das Dorf war nur knapp drei Kilometer entfernt, ein Weg, den auch Malka leicht zu Fuß gehen konnte.
    »Einen Moment«, sagte Hanna, lief ins Haus zurück und befahl Minna, Malka zu suchen und mit ihr nach
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