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Malka Mai

Malka Mai

Titel: Malka Mai
Autoren: Mirjam Pressler
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den Blick zu Boden gerichtet. Die Sonne schien durch das geöffnete Fenster und alles sah so normal aus, so gewöhnlich wie an einem x-beliebigen schönen Spätsommertag. Ich sollte mich an den Bach setzen, dachte Hanna, meine Füße ins Wasser halten und zuschauen, wie die Libellen über das Wasser surren. Plötzlich schien es nichts Wichtigeres zu geben als die Libellen.
    Frau Silber räusperte sich und bewegte die Hände. Hanna schaute sie an. Sie wollte etwas sagen, wusste aber nicht, was. Die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Draußen auf dem Weg waren Schritte zu hören, die Haustür ging auf, dann die Küchentür. Es dauerte nicht lange und Minna kam ins Ambulatorium, gefolgt von Zofias Mutter, Frau Wolynska aus Wyszków. Die Bäuerin küsste Hannas Hand und rief: »Frau Doktor, die Deutschen haben was vor. Sie verlangen, dass Wyszków zwanzig Fuhrwerke nach Lawoczne bringt, heute Nachmittag um fünf Uhr. Mein Mann schickt mich, ich soll Ihnen Bescheid sagen, Sie sind immer gut zu unserer Zofia gewesen, hat er gesagt, und wenn Zofia nicht so viel bei Ihnen gelernt hätte, hätte der Assessor in Stryj sie nicht genommen, hat er gesagt, und Sie sollen sich heute lieber nicht auf der Straße zeigen, am besten würden Sie zu einem Christen ins Haus gehen, Sie und Minna und die Kleine, und alles in Ruhe abwarten, hat er gesagt …«
    Hanna nahm ihre Hände aus denen der Bäuerin und bedankte sich dafür, dass sie den weiten Weg auf sich genommen hatte, um sie zu warnen, dann bat sie Minna, der Frau noch Tee und einen Imbiss zu servieren, bevor sie sich auf den Rückweg machte. Auch zum Abschied küsste Frau Wolynska ihr die Hand. Hanna bat sie, Zofia zu grüßen, dann war sie wieder allein mit Frau Silber.
    Frau Silber stand auf. »Wissen Sie schon, was Sie machen?«, fragte sie.
    Hanna zuckte mit den Schultern. »Ich werde wohl wirklich mit meinen Kindern zu meinen christlichen Nachbarn gehen und Sie bitten, mich für heute Nachmittag aufzunehmen. Und Sie?«
    Frau Silber lächelte traurig. »Ich gehe dahin, wohin alle Juden gehen.« Plötzlich umarmte sie Hanna, etwas, was sie noch nie getan hatte, und sagte auf Jiddisch 3) : » Gejt in gesinderhejt .« Hanna gab die Umarmung zurück und ging in die Küche, um ihren Töchtern zu sagen, dass sie sich bereithalten sollten.
    3) Jiddisch: Sprache, die von den Juden in Osteuropa gesprochen wurde. Jiddisch besteht zu einem großen Teil aus mittelhochdeutschen Dialekten, gemischt mit vielen hebräischen Wörtern.
    Malka ging durch die Hintertür ins Haus, wie sie es immer tat, direkt zu Veronikas Zimmer. Veronika saß auf dem Teppich und hatte ihre Spielsachen um sich herum aufgebaut: Puppen, eine Spielküche, einen Puppenwagen und ein Puppenbett, einen aufgeklappten Koffer mit Kleidern und eine Schachtel mit einem rosafarbenen Kamm und einer Bürste. Bevor Veronika mit ihrer Mutter nach Lawoczne gekommen war, hatte Malka noch nie so viele Spielsachen gesehen, noch nicht einmal in Krakau. Sie hatte nicht gewusst, dass es solche Spielsachen gab, bis dahin hatte sie nur Bälle, Springseile und Kreisel gekannt. Die polnischen und ukrainischen Kinder, mit denen sie früher gespielt hatte, besaßen keine Spielsachen, sie hatten auch nicht viel Zeit zum Spielen, und statt Puppen hatten die meisten Mädchen kleinere Geschwister, um die sie sich kümmern mussten. Im Sommer und im Herbst wurden sie in die Wälder geschickt, um Beeren und Pilze zu sammeln, nur im Winter hatten sie weniger zu tun. Der Winter war die Zeit der Schneemänner, der Schlitten, der Schneeballschlachten.
    Veronika trug ihren roten Trägerrock und die weiße Bluse mit dem Spitzenkragen, die Malka so gut gefiel. Vielleicht würde sie sich irgendwann trauen, Frau Schneider um eine solche Bluse zu bitten, wenn sie wieder einmal nach Deutschland fuhr. Veronikas Haare waren zu zwei Zöpfen geflochten und über den Ohren zu festen Schnecken gesteckt. Sie hielt den Kopf gesenkt und kämmte die langen, blonden Haare ihrer Lieblingspuppe Marion. Immer, wenn Malka Veronikas rosigen Mittelscheitel zwischen den straffen, hellbraunen Haaren sah, musste sie an einen nackten Po denken, aber das sagte sie ihr natürlich nicht. Sie wollte Veronika nicht verärgern, dann durfte sie vielleicht nicht mehr mit ihr spielen.
    Sie setzte sich zu dem Mädchen auf den Boden und griff nach Liesel, der kleinen Stoffpuppe mit den Ringelsocken und den gelben Wollhaaren. Liesel hatte ein süßes aufgemaltes Gesicht mit blauen Augen.
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