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Malka Mai

Malka Mai

Titel: Malka Mai
Autoren: Mirjam Pressler
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die Schublade, fuhr sich durch die Haare und nahm einen Stift in die Hand, als hätte sie gearbeitet, bevor sie »Herein« rief.
    Es war Frau Silber, eine schwere, dunkle Frau mit trägen Bewegungen und einem ewig verschwommenen Blick, hinter dem sich aber, wie Hanna wusste, ein wacher Geist verbarg. Sechs Kinder hatte sie geboren, bei der Geburt des letzten, die unerwartet schwer verlaufen war, hatte Hanna ihr geholfen. Erst nach einem sehr hohen Dammschnitt war der kleine Mosche, ein Neunpfünder, auf die Welt gekommen, ein halbes Jahr nachdem ihr Mann nach Amerika ausgewandert war. Seither hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Sie brachte ihre Kinder mit Näharbeiten durch.
    Frau Silber bewegte sich schneller als sonst, sie ließ sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtischs fallen und platzte ohne Umschweife mit dem heraus, was sie sagen wollte: »Sie haben ihre Sachen bei den Schneidern abgeholt. Und bei Netti, der Wäscherin, waren sie auch.«
    »Wer?«, fragte Hanna Mai erstaunt.
    »Die Deutschen, der Grenzschutz. Sie waren bei Mendel Abraham und bei David Schneor und haben alles abholen lassen, auch die Anzüge, die noch nicht fertig waren. Das kann nur eines bedeuten, Frau Doktor, es kommt eine Aktion.«
    Die beiden Frauen starrten sich an. Hanna Mai wusste nicht, wie sie ihr Erschrecken verbergen sollte, denn natürlich hatte sie schon von Aktionen gehört, es war das Wort, das ihr seit ein paar Wochen das Herz schwer machte. Einer ihrer Patienten, ein deutscher Offizier, hatte von einer Aktion in Krakau berichtet und gesagt, alle Juden würden an einen unbekannten Ort umgesiedelt. Sie hatte sofort an ihren Vater geschrieben, bisher aber noch keine Antwort bekommen. Die Worte »Aktion« und »Umsiedlung« waren, auch wenn sie nicht wusste, was sie wirklich bedeuteten, der Grund dafür, dass sie immer wieder die Fotos anschaute und den Brief las. Sie fühlte sich seltsam schwach und willenlos, wenn sie an ihren Vater dachte, an ihre Schwester und deren Familie.
    Was sie selbst und ihre Töchter anging, hatte sie eigentlich keine große Angst, oder besser gesagt, die Angst war nur ein verschwommenes Gefühl, das sich leicht mit dem Gedanken zurückdrängen ließ, dass sie ja arbeitete und dass sie auch für die Deutschen eine gewisse Rolle spielte, weil es außer ihr im Umkreis von fünfzig Kilometern keinen Arzt gab. Und ihr Beruf war nicht der einzige Grund dafür, dass die Deutschen sie brauchten, schließlich gehörte sie auch zu den wenigen gebildeten Menschen in einer Umgebung, in der die meisten Bewohner Bauern waren, Analphabeten.
    Zu ihr waren die deutschen Offiziere immer höflich gewesen, sie unterhielten sich gerne mit ihr über Bücher und über Theater und hatten sie auch oft genug privat besucht. Nicht nur Heinz Peschl. Hanna fühlte sich, gesellschaftlich gesehen, den Deutschen näher als den polnischen und ukrainischen Bauern, auch wenn sie sich eingestehen musste, dass die Besuche der deutschen Offiziere in ihrem Haus in den letzten Monaten seltener geworden waren. Auch Heinz Peschl war seit Wochen nicht mehr hier gewesen.
    Trotzdem hatte sie keine Angst, nicht wirklich. Sie wurde gebraucht, ihr Beruf schützte sie, im Gegensatz zu Juden wie Frau Silber, die sich natürlich in einer völlig anderen Situation befand. Hanna betrachtete die Frau, die mit gesenktem Kopf vor ihr saß, die Hände in den Schoß gelegt, und sagte das Einzige, was ihr einfiel. »Viele Juden sind nach Ungarn geflohen, die Grenze ist so nahe.«
    Frau Silber schaute sie an. Auf einmal war ihr Blick nicht mehr verschwommen, sondern wach und direkt. Auch ihre Stimme war sehr klar, als sie sagte: »Soll ich, Rachel Silber, mit meinen Kindern betteln gehen? Lejser und Jankel sind fast erwachsen, sie können selbst entscheiden, was sie tun wollen, aber ich werde mit den Mädchen und Mojschele dahin gehen, wohin man mich schickt.« Dann schwieg sie.
    Wie immer, wenn sie unruhig war, fing Hanna an aufzuräumen, irgendetwas zu tun, sie schob einen Block von einer Seite auf die andere, stand auf und stellte ein Buch ins Regal, rückte eine Fachzeitschrift, die auf dem Tisch lag, so zurecht, dass der Rand mit der Kante abschloss, legte den Füller und einen Bleistift in die hölzerne Schale, rollte die Manschette des Blutdruckmessgeräts zusammen, schob das Stethoskop daneben, drehte den Schlüssel zu ihrer Schreibtischschublade zu, dann wieder auf, und während der ganzen Zeit saß Frau Silber reglos auf dem Stuhl,
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