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Das Leuchten der Insel

Das Leuchten der Insel

Titel: Das Leuchten der Insel
Autoren: Kathleen McCleary
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1. Kapitel
    Susannah 2011
    I ch laufe nicht weg«, dachte Susannah. Schließlich konnte man das, was sie tat, kaum als »weglaufen« bezeichnen. Sie brachte ihre Kinder mit – auch das Kind, das sie, wenn sie ehrlich war, am liebsten zurückgelassen hätte. Und sie verließ Matt nicht, auch wenn das die halbe Stadt dachte. Es ging hier nicht um Matt, auch wenn er sich ein wenig mehr hätte engagieren können. – Na gut, erheblich mehr hätte engagieren können. Sie tat einfach nur genau das, was zu tun sie vor vierzehn Jahren geschworen hatte, als ihr die Krankenschwester die wild strampelnde neugeborene Katie zum ersten Mal in die Arme gelegt hatte: Sie beschützte ihre Kinder.
    Die Fähre setzte sich in Bewegung. Susannah umklammerte die grüne Eisenreling mit beiden Händen und versuchte, die in ihrer Brust aufsteigende Angst zu dämpfen. Das blaugraue Wasser umspielte das Schiff in sanften Wogen, und kleine Schaumkronen bildeten sich auf dem Kamm der Wellen. »Es wird alles gut«, dachte sie. Die kräftige Brise ergriff ihr Haar und peitschte es ihr um das Gesicht. Einen Augenblick lang vergaß sie alle Furcht, und es überfiel sie ein plötzliches Gefühl der Freiheit. Ich tu’ es wirklich. Ich lasse all das hinter mir. Sie hob eine Hand, um sich das Haar hinter die Ohren zu schieben.
    Quinn, ihr Sohn, stand neben ihr. Sein langes blondes Haar wehte im Wind, während er in das unter ihm vorbeiziehende Wasser starrte. Einige Hundert Meter entfernt fingen der Kiesstrand und die tannenbedeckten Hügel von Anacortes die Oktobersonne ein. Riesige Treibholzstücke, das ausgeblichene Gebein irgendeines fernen Waldes, lagen entlang des oberen Randes der felsigen Küste verstreut. Die Fähre tuckerte weiter.
    »Ist das der Ozean?«, fragte Quinn.
    »Ja«, sagte Susannah. Sie konzentrierte sich darauf, ihre Stimme Quinn gegenüber ruhig und gleichmäßig klingen zu lassen. »Das vermute ich. Wir sind hier in einer großen Bucht, aber auf der anderen Seite dieser Inseln liegt Vancouver Island und dann der Pazifik.«
    Sie hatte die Karte studiert, die ihr ihre neue Vermieterin geschickt hatte, und sich die Namen und die Formen der Inseln, Meerengen und Buchten eingeprägt. Nun kannte sie die großen Landmassen von Orcas und San Juan, die winzig kleinen von Patos und Sucia, die merkwürdige H-Form von Henry Island und natürlich Sounder, ihr Ziel, das aus gut fünfzehn Quadratkilometern dichtem Wald und einer zerklüfteten Küste bestand und an der Nordspitze von San Juan Island lag.
    »Guck mal.« Quinn zeigte zum Himmel, wo ein großer Vogel über dem Schiff kreiste.
    Susannah schirmte ihre Augen mit der Hand gegen die Sonne ab und sah die schwarze Silhouette, die sich gegen den hellen Himmel abzeichnete.
    »Das ist ein Adler!«, rief Quinn. »Ich habe bisher nur einmal einen gesehen.«
    »Woher weißt du, dass es ein Adler ist?«
    »Das sehe ich an der Art, wie er fliegt. Siehst du, wie er seine Flügel ganz flach und gerade ausbreitet? Daran erkennst du, dass es sich um einen Adler und nicht um einen Habicht handelt.«
    Ihr Sohn liebte Tiere. Er hatte mehr als sechs Haustiere zu Hause gelassen, zu denen zwei Katzen, ein Kaninchen und ein Salamander gehörten. »Du kannst ein Tier mitnehmen«, hatte sie zu ihm gesagt, und er hatte sich für seine geliebte Scharnierschildkröte Otis entschieden. Er war in einem Transportkäfig aus Plastik untergebracht, der zu Quinns Füßen stand.
    Susannah beobachtete, wie der Adler aufstieg und schließlich hinter ihnen wegflog, zurück zum Ufer. Wann hatte sie das letzte Mal auch nur eine Minute Zeit gehabt, einfach in den Himmel zu schauen? Daheim in Tilton war ihr Leben eine totale Katastrophe aus Arbeit, Schule, Fußballtraining, Tauchteam, Flötenstunden, Schlagzeugstunden, Basketball, Little League, Umweltklub und – nicht zu vergessen – Young-Zookeepers-Club. Dort, in ihrem netten kleinen Vorort im nördlichsten Winkel von Virginia, begann der Wahnsinn im September, wenn sich die Blätter an den Kirschbäumen rostig rot verfärbten, und dauerte bis in den Juli, wenn die ersten Tomaten reiften. Mit dem ersten Schultag wurde die gesamte Familie schlagartig in eine hektische Betriebsamkeit auf ständigem Höchstgeschwindigkeitsniveau geschleudert, und sie glich dann sehnigen Windhunden, die hinter einem Köder hersprinten, den sie nie wirklich zu schnappen kriegen.
    Susannah musste als Gedächtnisstütze kleine rosafarbene Haftnotizen an das Armaturenbrett ihres Autos heften,
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