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Die Heilerin des Kaisers

Die Heilerin des Kaisers

Titel: Die Heilerin des Kaisers
Autoren: Karla Weigand
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gezückt.
    »Lasst ja meine Schwester in Frieden, sonst kriegt ihr es mit mir zu tun«, zischte er. »Seid froh, dass wir euch Verrückte überhaupt durch unser Dorf ziehen lassen. Wenn ihr glaubt, Ärger machen zu können, hetzen wir die Hunde auf euch.«
    Inzwischen hatten sich Dietwulfs Freunde und Nachbarn an seine Seite gestellt und die Flagellanten sahen wohl ein, dass sie nichts auszurichten vermochten. So machten sie, dass sie weiterkamen, und suchten den Anschluss an ihren Zug.
    »Ich habe gehört, sie ziehen bis zum Kalvarienberg hinter dem Dorf Lampertsheim. Dort wollen sie das Ende des Jahres abwarten und betend und singend den Weltuntergang erleben«, sagte ein Mann zu Griseldis und Dietwulf, nachdem die Schar außer Blickweite war und die Dorfbewohner unter sich zurückblieben.
    »Das habe ich auch gehört. Keiner von denen glaubt, dass er das Jahr 1000 erleben wird. Sie wollen gemeinsam das Jüngste Gericht abwarten, das unser HERR JESUS auf dem Kalvarienberg abhalten wird«, ergänzte ein anderer.
    »Warum gerade da und nicht auf einem größeren Berg?«, wollte ein junger Bursche wissen. »Da oben auf dem niedrigen Hügel haben nicht allzu viele Platz.«
    »Die Übrigen müssen sich halt ihren eigenen Berg suchen«, warf jemand ein.
    »Ach ja?«, sagte Dietwulf und lachte. »Und auf jedem dieser lausigen Buckel erscheint CHRISTUS und hält seine Abrechnung zwischen Gerechten und Ungerechten? Das wird Jahrzehnte dauern, bis er mit allen fertig ist. Wenn das so ist, bleib ich lieber in meiner Stube und warte am warmen Herd auf das Jüngste Gericht. Ich bin ganz sicher, dass mich unser HERRGOTT auch in der Kuchl findet.«
    »Sogar auf dem Abtritt«, frotzelte ein als Spaßvogel bekannter Einwohner von Tannhofen und spuckte der frommen Büßerschar hinterher.
     
    Endlich war es da, das bedeutende, mit so viel Spannung erwartete Ereignis: die Jahrtausendwende, nach der alles ganz anders sein würde – sofern man den selbst ernannten Propheten Glauben schenkte, die den Untergang alles Irdischen vorhergesagt hatten.
    Aber siehe da, die Sonne ging am Morgen des ersten Tages im neuen Jahr genauso auf, wie sie es immer schon getan hatte. Und am nächsten Tag machte sie dasselbe.
    Für alle, die an Irrtümer im Datum glaubten und sich daran klammerten, die Kalendermacher müssten sich getäuscht haben, wartete man noch einen Tag und dann noch einen. Aber nichts Außergewöhnliches geschah.
    Allmählich wurde auch dem Einfältigsten klar, dass er einem Humbug aufgesessen war: Alle lebten noch, Sonne und Mond zogen wie bisher ihre Bahn und die Sterne waren auch nicht vom Himmel gefallen.
    Im Laufe der folgenden Tage legte sich die Todesangst allmählich und auch die Hartnäckigsten sahen ein, dass es wohl noch eine Weile weitergehen würde in diesem irdischen Jammertal.
    Was blieb, war einesteils eine ungeheure Erleichterung, aber andernteils kamen ein großes Wehklagen und ein ganz gewaltiger Katzenjammer auf.
    »Auch in Tannhofen haben einige ihre Höfe verlassen und sich körperlich ruiniert durch Ausschweifungen und Laster aller Art«, sagte der Freibauer Frowein beim Nachtmahl, als er mit seiner Hausfrau Dietlinde auf dem mit Schnitzereien verzierten Hochsitz am Tisch in der Wohnstube saß. Die übrige Familie, die nebst den Knechten und Mägden ringsum auf den langen Bänken Platz genommen hatte, lauschte seinen Worten. »Und nun sind sie mit ihren irdischen Gütern am Ende; sei es, weil sie alles verludert haben oder aber in frommem Übereifer an die Bedürftigen verschenkt.«
    »Man kann die Ärmsten eigentlich nur bedauern, denn sie haben nichts mehr und müssen zum Schaden noch den Spott derer ertragen, die immer schon gewusst haben, dass gar nichts passieren würde«, warf Griseldis ein.
    »Das mag zwar stimmen, Schwester, aber keiner der genarrten Endzeitgläubigen will das hören«, sagte Dietwulf und lachte. In der Tat gab es neuerdings viel böses Blut unter den Menschen, und das beileibe nicht nur in Tannhofen. Die Besitzenden und die Habenichtse gerieten sich zunehmend in die Haare, und die Zahl derer, die sich auf Unrechtem Wege zu bereichern suchten, stieg sprunghaft an.
    Die abtrünnigen Mönche und Nonnen wollten zum großen Teil wieder zurück ins warme, gemachte Nest; doch vielerorts verwehrten ihnen die Äbte die Wiederaufnahme.
    »Mit euch Lumpenpack wollen wir nichts mehr zu tun haben«, urteilte rigoros der Prior vom nahe gelegenen Kloster Eberhardszell und ließ seine zerlumpten und
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