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Familienalbum

Familienalbum

Titel: Familienalbum
Autoren: P Lively
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Allersmead
    Gina bog von der Straße ab, in die Auffahrt von Allersmead. Da war ihr, als liefe im Zeitraffer ihr ganzes Leben noch einmal vor ihren Augen ab. Wie es von Ertrinkenden heißt. Das gab ihr zu denken, aber auch, dass noch niemand einen Ertrinkenden dazu hat befragen können.
    Philip, der auf dem Beifahrersitz saß, sah ein großes, um die Jahrhundertwende erbautes Haus mit breiter Treppe, die zu einer Haustür mit Buntglaseinsätzen führte, davor eine weite Kiesfläche voller Unkraut. Ringsum Bäume wie Ausrufezeichen. Wuchernde Sträucher. Am Fuß der Treppe steinerne Urnen mit spillerigen Geranien. Philip kannte Gina seit sechs Monaten und war seit fünf Monaten mit ihr zusammen.
    Gina sah auf der obersten Stufe Alison stehen, die Arme zu einer theatralischen Begrüßung erhoben. Sie sah aus der Eingangshalle Charles kommen und auf sie herunterstarren, leicht überrascht, wie es schien.
    Philip sah eine mollige ältere Frau mit halb aufgelöstem Haarknoten; zu ihr trat ein großer, gebeugter Mann in einer Tweedjacke, die, sollte man meinen, seit den Siebzigerjahren aus der Mode gekommen war. Ein großer Hund watschelte ihm dicht auf den Fersen und sackte auf der obersten Stufe zusammen.
    Gina sah ein paar Gespenster und verscheuchte sie. Viele Menschen redeten durcheinander, sagten immer dasselbe, wie seit Jahren schon, und wurden ebenfalls weggewischt. Gina bremste und stieg aus, Philip ebenso. Sie sagte: »Hallo, ihr beiden. Das ist Philip.«
    Alison kam die Treppe herunter, umarmte Gina und strahlte Philip an. »Ich bin Alison. Schön, dass Sie da sind.«
    Charles stand bloß da. Der Hund klopfte mit dem Schwanz auf den Boden.
    Philip holte das Gepäck aus dem Auto. Er ging mit Gina die Treppe hinauf. Gina stellte vor: »Philip, das ist Charles. Mein Vater.«
    Charles ließ den Blick auf Philip ruhen, als überlegte er, ob er ihn schon einmal gesehen hatte. »Und Ingrid«, fuhr Gina fort.
    Jetzt erst sah Philip die andere Frau, die mit der Ruhe einer Statue in der weiten Eingangshalle wartete (schwarz-weiß gefliester Boden, alte Standuhr, Schirmständer, eine Reihe von Kleiderhaken mit vielen Regenmänteln, ein mit Werbepost übersäter Eichentisch). Eine etwas jüngere Frau mit glattem blondem Haar, rosigem Gesicht und einem Gemüsekorb am Arm.
    »Ingrids Ernte ist dieses Jahr eine Sensation«, sagte Alison. »Die dicken Bohnen kommen uns schon zu den Ohren raus.«
    Kochdüfte zogen durchs Haus. Vor allem Knoblauch, Kräuter und Wein ließen sich ausmachen – ein deftiges Schmorgericht, Coq au vin vielleicht, oder B œ uf en daube .
    Philips Blick wanderte zur Eichentreppe, zum Treppenabsatz auf halber Höhe, mit einem weiteren Buntglasfenster und einem Sitzplatz auf der Fensterbank, wanderte zur offenen Tür in der Eingangshalle und in den Raum dahinter, der anscheinend voller Bücher war. Ein großes Haus. Aus jenen Tagen, als – für bestimmte Schichten – ein großes Haus selbstverständlich war.
    In Gina stiegen nostalgische Gefühle hoch, aber auch Verbitterung und heftige Sehnsucht nach ihrer Wohnung in Camden, wo Philip sonst nach der Arbeit eine Flasche entkorkte.
    Da polterte jemand die Treppe herunter und blieb, als er Gina erblickte, abrupt bei der Biegung stehen. »Du lieber Himmel«, sagte er. »Nicht du schon wieder!«
    »Verpiss dich«, erwiderte Gina liebenswürdig.
    Philip sah eine schmuddlige Jeans, einen ausgefransten Pulli und eine unheimliche Ähnlichkeit mit Gina.
    »Also wirklich, Paul!«, rief Alison. »Gina war seit über einem Jahr nicht mehr hier!«
    »Das nennt man Ironie, Mum«, erklärte Gina. »Nicht, dass ihm das was sagen würde. Na, Paul, wie geht’s denn so?«
    Paul kam die letzten Stufen herunter. »Warum bist du so braun?«
    »Afrika.«
    »Wir haben dich in den Nachrichten gesehen«, sagte Ingrid. »Dein Interview mit diesen Leuten, die da irgendwo kämpfen. Furchtbar.«
    »Das kann man wohl sagen. Paul, das ist Philip.«
    »Hi, Philip. Auch unterwegs in Sachen Afrika und so?«
    »Ich bin in der Redaktion. Da sitze ich meist am Schreibtisch.«
    »Sehr vernünftig.« Charles war schon in Richtung Bücherzimmer unterwegs, blieb nun aber stehen. »Bei der Times , nicht?«
    »Nein«, sagte Gina. »Du hast Philip noch nie gesehen. Und er ist nicht bei der Times .«
    »Pardon.« Ein liebenswürdiges Lächeln. »Nicht, dass ich die noch läse. Einst die Zeitung des denkenden Menschen. Jetzt kauft man mal dies, mal das und bleibt stets unbefriedigt. Was lesen
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