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Die Heilerin des Kaisers

Die Heilerin des Kaisers

Titel: Die Heilerin des Kaisers
Autoren: Karla Weigand
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halb verhungerten Mitbrüder draußen vor der Pforte stehen.
    So machten auch weiterhin umherstreifende Bettelmönche die Wälder, Dörfer und Landstraßen unsicher.
    »Sie schließen sich jenen an, die erst gar nicht mehr versucht haben zurückzukehren, weil sie inzwischen total verwildert sind und sich der Klosterzucht oder Dorfgemeinschaft nicht mehr unterordnen wollen«, sagte Herr Wulfram, der Gemeindepriester von Tannhofen, und warnte die Tannhofener eindringlich vor diesen Kutten tragenden Strolchen. Für manche Frau und manches Mädchen kam seine Warnung allerdings zu spät.
    Die reumütigen Nonnen hatten es da ein wenig leichter; ihnen gewährten die Äbtissinnen im Allgemeinen die Rückkehr – wobei sich nicht selten herausstellte, dass man zwar nur eine Nonne aufgenommen, nach einigen Monaten aber zwei Esser am Hals hatte: die meisten der jüngeren Klosterschwestern waren guter Hoffnung gewesen…
     
     

KAPITEL 6
     
    A M LETZTEN T AG des Erntemonds im Jahre 1000 nach der Geburt unseres HERRN lag Muhme Bertrada im wahrhaft biblischen Alter von über neunzig Jahren im Sterben. Winzig und eingeschrumpft kauerte sie auf ihrem Strohsack in der kleinen Kammer.
    Seit drei Monaten hatte Frau Bertrada ihr Bett nicht mehr verlassen und beinahe jede Nacht war Griseldis, die nebenan schlief und jeden Seufzer durch die dünne Bretterwand hören konnte, aufgestanden und hatte nach ihrer Verwandten geschaut: Sie hatte ihr das Kissen aufgeschüttelt, zu trinken gebracht oder einfach nur deren runzelige Hand so lange gehalten, bis die Muhme wieder eingeschlafen war.
    So saß Griseldis auch jetzt wieder an ihrem Lager und beobachtete die Züge der Tante.
    Lange hatten die beiden Frauen, jung und alt, doch im Innersten so ähnlich, geschwiegen. Die Sterbende atmete mühsam und ihr Blick schweifte zu dem Becher mit Kräutertee, den das Mädchen zum Abkühlen auf die Truhe gestellt hatte.
    »Möchtet Ihr trinken, Frau Muhme?«, fragte Griseldis und erhob sich, um ihrer Verwandten den Tee zu reichen. Das Mädchen hatte unter anderem Johanniskraut zugegeben, um das Gemüt der alten Frau ein wenig aufzuhellen.
    ›Sie soll möglichst wenig Angst haben vor dem Sterben‹, hatte Griseldis sich gesagt. Zum Glück litt Frau Bertrada keine Schmerzen. »Mein ohnehin ungewöhnlich langer Lebensfaden läuft aus«, murmelte die Greisin, ehe das Mädchen ihr den Becher mit dem Kräuterabsud an die schmalen Lippen hielt. »Eine der Nornen – ich habe vergessen, wie sie heißt – wird ihn in Kürze ganz abschneiden.«
    Sie kicherte plötzlich. »Ist auch besser so, Seldi, wenn ich die Namen unserer alten, heidnischen Götter nicht mehr weiß, wo ich doch vor neunzig Jahren christlich getauft worden bin.«
    Griseldis wusste, dass die Muhme, ähnlich wie ihre eigene Mutter Dietlinde, noch ziemlich stark im germanischen Götterglauben verwurzelt war und die Wendung, die das Gespräch nun genommen hatte, gefiel ihr nicht besonders.
    »Liegt Ihr bequem, Frau Muhme?«, fragte sie besorgt, um vom Thema abzulenken.
    »Lass nur, mein Kind«, winkte die Alte ab, »mir geht es gut. Du kannst nichts mehr für mich tun«. Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Sei beruhigt, ich habe bereits gestern Herrn Wulfram, nach dem dein Vater hat schicken lassen, alle meine Sünden gebeichtet. Ich war selber erstaunt und betroffen, wie viel in neun Jahrzehnten zusammengekommen ist! Ich habe bereut und das heilige Sakrament empfangen. Ich bin also bereit für die Ewigkeit – als gute Christin.«
    Griseldis atmete auf. Sie selbst war am vergangenen Tag frühmorgens zu einem Kranken gerufen worden, hatte später bei einer schwierigen Geburt geholfen und war erst abends sehr spät nach Hause geritten. Sie hatte daher nichts von Herrn Wulframs Besuch auf Froweins Hof gewusst.
    Frau Bertrada streichelte die kräftige Hand ihrer jungen Verwandten. Dabei fühlte sie den Ring – jenen, den sie dem kleinen Mädchen vor vielen Jahren unter der großen Linde auf der Waldlichtung über den Daumen gestreift hatte, damit auch das Kind die Elfen tanzen sehen konnte.
    »Schön, dass du ihn noch trägst, Griseldis. Auch wenn er dir nur noch am kleinen Finger passt. Verliere ihn nicht! Er verstärkt die heilende Kraft deiner Hände.«
    »Ja, Frau Muhme. Ich danke Euch für dieses große Geschenk«, sagte Griseldis leise, beugte sich zu der winzigen Alten auf ihrem Sterbelager hinunter und küsste sie auf die braunfleckige Wange, die sich unter ihren frischen Lippen anfühlte
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