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Boeses Mädchen

Boeses Mädchen

Titel: Boeses Mädchen
Autoren: Amélie Nothomb
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    A m ersten Tag sah ich sie lächeln. Ich wollte sie unbedingt kennenlernen.
    Ich wußte nur, ich hatte keine Chance. Auf sie zugehen konnte ich nicht. Ich habe immer darauf gewartet, daß mich jemand anspricht. Und nie ist jemand gekommen.
    Das war für mich die Universität: Du denkst, du stößt das Tor zur Welt auf, lernst aber niemanden kennen.
     
    Eine Woche später traf mich ihr Blick.
    Ich dachte, sie würde ihn rasch abwenden. Doch nein. Er blieb auf mir liegen und maß mich. Ihn zu erwidern wagte ich nicht. Der Boden unter meinen Füßen wankte, mein Atem stockte.
    Nach einer Weile wurde es unerträglich. Es erforderte unerhörten Mut, aufzusehen und meinen Blick in ihren zu tauchen. Sie winkte mir zu und lachte.
    Dann wandte sie sich den Jungs zu.
     
    Am nächsten Tag kam sie nach der Vorlesung zu mir und sagte hallo.
    Ich erwiderte ihren Gruß und verstummte. Und verfluchte meine Schüchternheit.
    »Du siehst jünger aus als die anderen«, stellte sie fest.
    »Bin ich auch«, sagte ich. »Ich bin vor einem Monat sechzehn geworden.«
    »Ich auch, vor drei Monaten. Hättest du nicht gedacht, stimmt’s?«
    »Stimmt.«
    Ihre Selbstsicherheit ließ sie die zwei, drei Jahre älter erscheinen, die der Rest uns voraushatte.
    »Wie heißt du?« fragte sie dann.
    »Blanche. Und du?«
    »Christa.«
    Ein ungewöhnlicher Vorname. Ich verstummte schon wieder. Sie sah mir meine Verblüffung wohl an, denn sie fügte ergänzend hinzu:
    »In Deutschland heißen viele so.«
    »Kommst du denn aus Deutschland?«
    »Nein. Aus einem östlichen Kanton.«
    »Und kannst du Deutsch?«
    »Klar.«
    Ich betrachtete sie voller Bewunderung.
    »Auf Wiedersehen, Blanche.«
    Ich konnte mich nicht von ihr verabschieden. Ein paar Studenten verlangten lautstark nach ihr. Strahlend lief sie den Hörsaal hinunter.
    Sie gehört dazu, dachte ich.
    Für mich war das von enormer Bedeutung. Ich hatte nie irgendwo dazugehört. Und betrachtete Menschen, die das schafften, mit einer Mischung aus Neid und Verachtung.
    Ich war schon seit eh und je eine Einzelgängerin, was mir nichts ausgemacht hätte, wenn es meine eigene Entscheidung gewesen wäre. Aber so war es nicht. Ich wünschte mir so sehr, irgendwo dazuzugehören, und sei es auch nur, um mir den Luxus zu gönnen, mich anschließend wieder auszuklinken.
    Noch mehr wünschte ich mir Christa zur Freundin. Eine Freundin zu haben erschien mir sagenhaft, und dann auch noch Christa – nein, es war aussichtslos.
    Ich fragte mich, warum ich mir gerade diese Freundschaft so sehr wünschte, fand aber keine klare Antwort. Christa hatte etwas Besonderes an sich, ohne daß ich hätte sagen können, was.
     
    Als ich den Campus verlassen wollte, hörte ich jemanden meinen Vornamen rufen.
    Das war mir schon so lange nicht mehr passiert, daß es eine Art Panik in mir hervorrief. Ich drehte mich um und sah Christa auf mich zulaufen. Es war ein hinreißendes Gefühl.
    »Wo willst du hin?« fragte sie und ging neben mir her.
    »Nach Hause.«
    »Und wo wohnst du?«
    »Fünf Minuten zu Fuß von hier.«
    »Das hätte ich auch gern!«
    »Wieso? Wo wohnst du denn?«
    »Hab ich dir doch gesagt: im Osten.«
    »Jetzt sag aber nicht, du fährst jeden Abend dorthin zurück!«
    »Doch.«
    »Aber das ist doch weit!«
    »Ja. Mit dem Zug zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück. Vom Bus will ich gar nicht reden. Ich hab keine bessere Lösung.«
    »Und das hältst du durch?«
    »Mal sehen.«
    Ich traute mich nicht weiterzufragen, womöglich war es ihr peinlich, weil sie nicht das Geld hatte, sich eine Studentenbude zu leisten.
    Am Hauseingang verabschiedete ich mich von ihr.
    »Und hier leben deine Eltern?« fragte sie.
    »Ja. Und du, wohnst du auch bei deinen Eltern?«
    »Ja.«
    »Ist doch normal in unserm Alter«, sagte ich, ohne genau zu wissen, warum.
    Sie platzte fast vor Lachen, als ob ich etwas ganz Absurdes gesagt hätte, und ich schämte mich.
     
    Ob ich nun ihre Freundin war? Ich wußte es nicht. Welches zwangsläufig geheime Zeichen verrät, ob man jemandes Freundin ist? Ich hatte nie eine gehabt.
    Sie hatte über mich gelacht. War das nun ein Zeichen der Freundschaft oder ein Zeichen der Verachtung? Es hatte mir wehgetan. Weil mir schon etwas an ihr lag.
    In einem Augenblick der Erleuchtung fragte ich mich, warum. Rechtfertigte das bißchen, was ich von ihr wußte, wirklich meinen Wunsch, ihr zu gefallen? Oder hatte ich bloß den kläglichen Grund, daß Christa als einzige mich eines Blickes
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