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Die Heilerin des Kaisers

Die Heilerin des Kaisers

Titel: Die Heilerin des Kaisers
Autoren: Karla Weigand
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KAPITEL 1
     
    D ER TIEFE S CHLAF der Jugend hielt Griseldis in jener Winternacht vom Februar 999 noch umfangen, als das Dorf bereits lichterloh in Flammen stand. Eine Horde betrunkener Plünderer war kurz nach Mitternacht grölend in den kleinen Ort Tannhofen an der Donau, eine gute halbe Tagesreise zu Pferd von Regensburg entfernt, eingefallen. Einige der Bewohner, die versucht hatten, sich dem Gesindel entgegenzustellen, wurden regelrecht massakriert.
    Ehe man im Dorf Alarm schlagen konnte, waren noch etliche Bauern schwer verletzt und vier Stück Großvieh von den berittenen Eindringlingen in die umliegenden Wälder entführt worden, dazu ein Dutzend Ziegen und Schafe.
    Dietwulf, Griseldis’ um drei Jahre älterer Bruder, polterte in die Kammer im Obergeschoss, welche die Achtzehnjährige mit ihrer zwölf Jahre alten Schwester Gertrud teilte.
    »Seldi, Seldi! Wach auf! Los, steh auf!«, rief der junge Mann und rüttelte sie dabei unsanft an der Schulter.
    »Was ist denn los?«, drang es verschlafen unter der groben, grauen Wolldecke hervor. Griseldis setzte sich auf und starrte Dietwulf an, der eine brennende Stalllaterne in der Linken trug, während er mit der rechten Hand immer noch ihren Oberarm umfasst hielt.
    »Das Dorf brennt ab, die Sturmglocke von Sankt Joseph läutet wie zum Weltuntergang und du liegst hier und schläfst seelenruhig!«
    Die Stimme des Bruders klang vorwurfsvoll. »Du musst sofort mitkommen, es hat Verletzte gegeben.« Mit diesen Worten ließ er ihren Arm los, wandte sich um und lief mit seiner Laterne aus der Kammer.
    Während Dietwulf die Stiege vom Heuboden, in dem zugleich noch andere kleine Schlafkammern untergebracht waren, mit schweren Schritten herunterstapfte, schwang Griseldis ihre Beine aus dem Bett, schlüpfte in ihren langen, wollenen Rock und warf sich das schwere Umschlagtuch über Kopf und Schultern, ehe sie in ihre mit Pelz gefütterten Stiefel fuhr.
    ›Die Glocke der Dorfkirche könnte wirklich Tote wecken, so laut läutet sie‹, dachte das junge Mädchen.
    Griseldis brauchte erst gar nicht umständlich Licht in der Schlafkammer anzumachen, denn der niedrige und schmale Raum der beiden Schwestern war beinahe taghell vom Widerschein der umliegenden brennenden Nachbarhöfe erleuchtet, denen die Räuber den roten Hahn auf die Strohdächer gesetzt hatten.
    ›Hört denn das gar nimmer auf, dieses Brennen und Morden? Sind denn nur noch Gesindel und Verrückte auf dieser Welt?‹, fragte sich das hübsche, schlanke Mädchen, als es seiner Truhe einen Beutel aus braun-weiß geschecktem Kuhfell entnahm, der Salben, Binden, Tinkturen und allerlei Instrumentarium enthielt, die es für seine Tätigkeit als Heilerin benötigte.
    Griseldis, geboren im Jahre 981 als zweites Kind und älteste Tochter des Freibauern Frowein und seiner Frau Dietlinde auf dem Gehöft der Familie, galt im Dorf als ein wenig »seltsam«.
    Der Grund dafür war nicht, dass sie sich, ihrer Jugend zum Trotz, erfolgreich um Kranke, Verletzte und Gebärende kümmerte, sondern weil man ihr seit ihrem dreizehnten Lebensjahr »heilende Hände« nachsagte sowie gewisse »seherische Fähigkeiten«. Die Leute schickten nach ihr nicht nur in Tannhofen und Umgebung, ihr Ruf war mittlerweile bis in die große, alte Donaustadt Regensburg gedrungen.
    Als Seldi, wie sie zu Hause genannt wurde, noch ein kleines Mädchen gewesen war, hatte ihre alte Tante, die Muhme Bertrada, sie eines Sommerabends mitgenommen zu einem mächtigen, uralten Lindenbaum auf einer Waldlichtung, etwa eine Gehstunde vom Dorf entfernt. Diese Linde hieß bei allen Bewohnern der Gegend nur der »Elfenbaum«.
    Es war ein heiliger Ort: Das Wasser aus einer Quelle in unmittelbarer Nähe des Baumriesen heilte das hitzigste Fieber oder böse Hautausschläge; und nicht weit davon entfernt wuchs eine Alraune, deren menschengestaltige Wurzel als zauberkräftig galt.
    Die Muhme hatte Griseldis’ kleine, kindliche Hand ganz fest in ihrer alten, runzeligen gehalten und geflüstert:
    »Wenn ich dir einen von meinen Ringen an einen Finger stecke, Seldi, dann kannst auch du die Elfen sehen.«
    Daraufhin war ein Brennen aus dem schlichten, goldenen Ring durch den Daumen der Fünfjährigen geströmt und von da durch ihren Arm und den gesamten Körper. Dieses eigenartige Gefühl hatte sich fortgesetzt bis in Griseldis’ Kopf und in die Augen.
    Und da sah das Kind, was Muhme Bertrada ihr schon so oft erzählt hatte: Auf einmal war die Wiese unter der Linde voll
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