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Die Gutachterin

Die Gutachterin

Titel: Die Gutachterin
Autoren: Heinz G. Konsalik
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hatte: Nähe …
    Als er einschlief, trotz des Donners über den Bergen, strich sie mit der Hand über sein Gesicht, zog die Linien der Stirn, der Nase, des Mundes nach.
    Irgendwann ließ ein grelles Krachen das ganze Haus erzittern und riß sie hoch.
    Blitze flammten. Das Bett neben ihr war leer.
    Sie dachte sich nichts, es war ohnehin so eng gewesen; er hatte sicher Schlaf und Erholung gesucht, und das war auch besser so. – Morgen, hatte sie sich vorgenommen, morgen würden sie beginnen …
    Doch auch am Morgen konnte sie ihn nirgends im Haus entdecken. Draußen regnete es noch immer, ein dunkel versiegelter Himmel und endlose graue Wasserstreifen, hinter denen die Welt verschwand.
    Gegen Mittag nahm sie den Schirm und rannte zum Kofler-Hof hinunter.
    »Der Hansi? Nein, nicht gesehen …«, hörte sie. Sie ging zurück, patschnaß, diese schräg heranpeitschenden Tropfen konnte kein Schirm abwehren.
    Und da stand er nun in der Tür und sah ihr entgegen, die Haare verklebt in der Stirn, die Haut über den Backenknochen gespannt, so verändert, daß es sie traf wie ein Schock – nicht nur verändert, nein, es war, als sei er in eine neue, in eine andere Existenz geschlüpft.
    »Mensch, ich such' dich überall! Wo warst du bloß?«
    »Ist doch nicht wichtig.«
    Er strich sich die Haare aus dem Gesicht. Die Nässe hatte ihm den Stoff seines Trainingsanzugs an den Körper geklebt.
    »Nicht wichtig? – Geh ins Haus, Ludwig, Herrgott noch mal, und zieh dich um. Du erkältest dich.«
    Keine Reaktion kam. Nur dieser Blick.
    Sie wollte nach seiner Hand greifen, doch er drehte sich um, schob sie zur Seite und begann zu rennen, den Hang hoch, dem Wald entgegen. Sie sah ihm nach, bis sich seine Gestalt im Grau auflöste.
    Mein Gott …! Es war zum erstenmal, daß sie es dachte: Es wird, es kann doch nicht eine Krise sein …? Die Krise, von der sie so viel geredet hatten … Nicht jetzt, doch nicht nach all dem, was geschehen war!
    Inzwischen war es sieben Uhr abends. Sie versuchte sich zu beruhigen, es gelang ihr nicht. Irgendwann aß sie eine Kleinigkeit, nahm eine Valiumtablette, legte sich hin, lauschte dem Regen und ließ alles, was sie bedrängte, hinter einem Nebel angenehmer Gleichgültigkeit versinken …
    Das Erwachen am nächsten Tag war wie ein heller Glockenschlag: Sonne lag im Zimmer, Sonne überall, auf den Geranien des Balkons, den Wiesen, Weiden, dem Tal, den Bergen und dem See.
    Sie stieß die Balkontüre auf: Der Wind wehte herein; unten auf dem Kofler-Hof waren sie dabei, die beiden Pferdekutschen für die Touristen anzuspannen. Eine kleine Wolke schwebte über Bergen und Wasser – die Welt schien wie ein einziges Fest …
    Der Platz vor dem Haus aber, Bank und Tisch waren leer.
    Sie trat durch die nächste Balkontür, die zu Ludwigs Zimmer führte, und sah sich um. Decke und Laken waren zerwühlt, in der Ecke lag der blaue Trainingsanzug, den sie ihm in Attersee gekauft hatte: nichts als ein nasses, zerdrücktes Häufchen dunkler Stoff … Doch seine Bergstiefel fehlten! Und auch die Jeanssachen, die er immer trug. Sie blieb stehen und lauschte in diese plötzlich bedrohliche Stille, die das Haus erfüllte. Keine Schritte auf der Treppe, kein Kaffeeduft wie so oft – das Zimmer schien zu einem gespenstischen Gehäuse ihrer Beklemmung erstarrt. Die Furcht gab ihr noch keine Gedanken, alles in ihr war nichts als eine Ahnung.
    Die Krise? War er in eine seiner Krisen geraten?
    Herrgott, nein! Nicht nach allem, was gestern geschehen war! Das doch nicht …
    Sie ging wieder auf den Balkon. Jetzt wirkte die Landschaft so künstlich und fremd wie ein Bühnenbild. Sie zog sich hastig an, lief hinunter in die Küche, trank ein Glas Wasser und griff zu einer Zigarette.
    Mach dich bloß nicht verrückt …
    Und dann fiel ihr ein, daß er gestern bei der Besprechung des heutigen Therapieplans gesagt hatte, er habe am Vormittag beim Messener zu tun! Der Jakob brauche ihn beim Holzabladen …
    Sie atmete tief durch und fühlte, wie das Herz sich beruhigte.
    Und trotzdem: Die Unruhe blieb.
    Schließlich verließ sie das Haus, zog die Tür hinter sich zu und machte sich auf den Weg.
    Jakob Messeners Hof lag fast auf derselben Höhe wie das Schafbach-Haus. Ein Wiesenpfad, der eine Mulde durchquerte, verband die beiden Anwesen. Isabella ließ sich Zeit, sie ging langsam, hielt das Gesicht der Sonne entgegen, und die Schatten verflüchtigten sich. Der Regen der Nacht hatte auf Gräsern und Blumen seine Tropfen
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