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Die Gutachterin

Die Gutachterin

Titel: Die Gutachterin
Autoren: Heinz G. Konsalik
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– dort, wo Menschen waren, ließen sie sich wenig sehen, einmal fuhren sie hinüber ins Dorf Attersee, tranken Kaffee und aßen Kuchen auf der Seeterrasse, und zweimal waren sie in Nußdorf, um irgendwelche Dinge und vor allem Zeitungen zu besorgen …
    Sie hatten sich vorgenommen, sie erst dann anzurühren, wenn sie sicher in der Fluchtburg, dem Schafbach-Haus saßen. Die deutschen Zeitungen waren meist ein oder zwei Tage alt, doch was bedeutete das schon, die Zeit hatte für sie ihre Bedeutung verloren, sie löste sich auf in der Ruhe und Abgeschiedenheit, die sie umgab.
    Eine Woche war inzwischen vergangen. Vielleicht hatten sie Pech gehabt und konnten die entsprechenden Exemplare nicht erwischen, aber sie fanden nicht eine einzige Meldung, die sich mit ›Ludwigs Flucht‹ oder der ›Großfahndung‹ beschäftigt hätte.
    »Mensch, Gott sei Dank …«, seufzte er. »Vielleicht streichen die mich einfach, weißt du, einfach so.«
    »Streichen? Wo streichen?«
    »Na, was weiß ich, aus dem großen Buch.«
    »Mach dir da keine Illusionen. Es gibt nichts, das deinen Namen löschen könnte. Wir müssen vorsichtig bleiben.«
    Er nickte nur und verschwand.
    Ja, er war viel weg während dieser Zeit, und sie dachte sich nichts dabei. Er war bei den Kühen oder in der Sägerei, Kofler schickte ihn mit dem Traktor los, um Holz zu karren, er hatte immer zu tun, und ihr war es recht: Sie war dabei, die Grundzüge der Therapie festzulegen, und je mehr sie darüber nachdachte, desto klarer wurden die Punkte, auf die es ankam: Ludwig war als Kind hilflos einem fremden, vom Wahn besetzten Willen ausgeliefert gewesen, und was dabei so tragisch ins Gewicht fiel, daß es sein späteres Schicksal entscheiden sollte – es gab keine Gegenposition, keinen Widerstand, an dem er sich hätte orientieren können. Die Erinnerung an den Vater war so blaß wie bei ihr … Aber sie hatte sich ihre Vorbilder gesucht. Er fand keines. Für ihn stand nur eines fest: Meine Mutter ist der einzige Schutz, den mir das Leben bietet. Was sie sagt, ist wahr – und damit Gesetz …
    Aber all dies in der hellen, heiteren Welt des Attersees heraufzubeschwören – es war ihr fast unmöglich.
    An einem dieser Nachmittage kam er und sagte: »Komm, jetzt zeig' ich dir die Sägerei.«
    Sie war noch nie dort gewesen, obwohl sie ihm sehr wichtig schien.
    Sie gingen etwa eine Viertelstunde den von ungezählten Traktorspuren gezeichneten Weg, bis sie zu dem großen, in den Hang gegrabenen Plateau kamen, auf dem die Stämme lagerten. Im Hintergrund erhob sich der Holzbau der Sägerei. Die Maschinen kreischten, und als sie näher kamen, konnte sie bewundern, wie die sechs Sägeblätter die Lärchenstämme in Bretter zerteilten. Ludwig schien völlig in seinem Element.
    »Toni!« schrie er dem Mann zu, der die Säge bediente. »Komm her! Das ist meine Tante …«
    »Ja so was, Hanserl«, sagte der Toni und strich sich über den grauen Bart, ehe er ihr eine schwielige Pranke reichte.
    Er schien unschlüssig, doch dann sagte er: »Der Hanserl hilft mir oft hier.«
    »Ja, hab' ich schon gehört.«
    Sie wollte noch etwas sagen, doch Ludwig hatte sich umgedreht. Auch sie folgte der Richtung seines Blicks. Ein grüngestrichener großer Traktor war aufgetaucht und zog auf dem Anhänger eine Ladung Holz hinter sich her.
    »Das ist der Messener«, sagte Toni.
    Sie nickte. Sie hatte Jakob Messener früher einmal kennengelernt, ihn aber seither nicht mehr gesehen. Und da war er nun, und sie erinnerte sich an den großen, aufrechten Mann von einst, als er nun mager und vornübergebeugt, die Militärmütze tief ins Gesicht gezogen, auf sie zukam.
    »Grüß euch! – Grüß Gott, Frau Doktor.«
    Sie sagte, was man in derartigen Augenblicken zu sagen pflegt, und fragte nach seiner Tochter.
    »Die Anni? Ja haben Sie die noch nicht g'sehn?« Er drehte sich um und winkte: »Anni!«
    Sie hatte noch immer das Kind im Gedächtnis und war erstaunt, als sie nun dort vom Traktor stieg, auf die Erde sprang und ihnen entgegen kam – dunkelblondes, schwingendes Haar, schlanke Taille, langbeinig und groß in den Jeans und dem engen, roten, billigen Pullover, den sie trug; der schmale Hals, das runde Gesicht – ein Bild von einem Mädchen!
    »Ich muß dem Jakob helfen« – wie oft hatte Ludwig das in den letzten Tagen gesagt. War es nur der Vater …? Gab es irgendeinen Zusammenhang …? Sei nicht albern, schob sie den Verdacht von sich, und außerdem, er reagiert ja nicht einmal, als Anni
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