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Die Gutachterin

Die Gutachterin

Titel: Die Gutachterin
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Die Schmerzen hatten ihre Macht verloren, sie entfernten sich, waren nur noch ein drohend flüsternder Chor im Hintergrund, wollten sich nun wieder herandrängen, doch sie rissen sie nicht mehr in den Abgrund, glichen dunklen Wellen, die sie nicht mehr zu erreichen vermochten.
    Ein einziges Mal öffnete sie die Augen. Sie sah die grauen Linien der Zementblöcke, in den Fugen bröckelnder Kalk und oben die helleren, schweren Linien der Zementträger. Sie sah viele vom Alter schwarzbraune Holzkisten, die sich die Wand hochtürmten, und die Pfosten des alten Bauernbetts, auf dem er sie gefesselt hatte – und sah sich selbst, ihre nackte, blutbesudelte Haut, das weiße, gespannte, wie bei einer Puppe verdrehte Knie und dahinter die schwarze, schwere Bohlentür, die er zuvor verriegelt hatte, und das Licht, das durch eine Luke hereinsickerte, und wieder ihr Blut, so viel Blut …
    Und sah ihn.
    Das Gesicht.
    Sein Gesicht.
    Sein Haar war nicht hell wie zuvor, dunkelfeucht und verdrückt war es, dunkel von Schweiß. Schweiß sammelte sich unter seinen Augen, an der Höhlung der Wangen – und sein Blick war wie ein Blitzen hinter blauem Glas.
    »Ja, schau nur … schau doch …«
    Sie bekam kaum Luft, das rechte Auge brannte, es war dick und bläulich verschwollen, und sie hatte Mühe, den Lidspalt geöffnet zu halten.
    »Ja – schau …« Die Worte waren ein keuchendes Flüstern, wie durch Sandpapier herausgepreßt. »Ja, schau, schau … Du hast's gehabt … Sag's doch. Du hast gehabt, was du wolltest … Denn das wollt ihr, das wollt ihr alle.«
    Ehe er sie auf die Matratze warf, hatte er sie ins Gesicht geschlagen, viermal, auf den Mund und an den Hals, zweimal gegen die Augen. Die rötlichen, schmierigen Schleier verschwanden, die ihren Blick trübten, ihr linkes Auge war wieder ganz geschlossen. Aber ihr rechtes sah …
    … dieses schreckliche Gesicht …
    Er hatte sie geschlagen, ehe er all die Dinge mit ihr machte, er hatte gebrüllt dabei, er hatte gesagt, sie würde das nie verstehen, aber es müsse sein, sie würde auch nie verstehen, was sie selbst wolle, dazu sei sie zu blöd und zu jung, aber es sei gut so und es müsse sein, er müsse es tun, und dann hatte er sie wieder geschlagen.
    »Ja, ich muß!« hatte er geschrien. »Verstehst du, ich treib' das raus aus dir! So, jaaa … und noch mal! … es muß raus …! Ich, ich, ich …« Ein schrilles, japsendes »Ich, ich, ich …«
    Da hatte sie schon gedacht, es sei alles zu Ende. Aber er hatte einen Stock geholt und ihn zwischen die Beine geschoben. Und das waren die schlimmsten Schmerzen.
    »Püppchen, Ruhe! Du willst das … Ihr wollt das alle – alle, alle, mein Püppchen. Ruhe, na, komm schon, komm doch – das tut dir doch gut.«
    Der Schmerz hatte sie beinahe zerrissen. Sie hörte den Schrei, einen langen, gellenden Schrei, und es wurde ihr klar, daß sie selbst es war, die so schrie.
    Er aber hatte gelacht.
    »Was denn – verdammt! Willst wohl nicht mehr?«
    Sie öffnete noch einmal die Augen. Sie hörte seinen Atem, ganz laut jetzt, ein ekelhaftes, scharfes, schreckliches Zischen, das aus seinem Brustkorb kam. Er hatte sich wieder über sie gekniet, wie zuvor, als er diese furchtbaren Sachen getan hatte, aber nun hielt er keinen Stock, es war etwas anderes – es war ein Stein, ein grauer Zementblock, und seine Hände umklammerten ihn hoch über seinem Kopf. Sie wußte, was es bedeutete und was kommen würde, und sie war froh darum, ja, plötzlich sehnte sie das graue, schwere, kantige Rechteck herbei, es würde ein Ende sein, endlich ein Ende – und doch schrie sie noch: »Nein!« Und wieder und wieder: »Nein, nein! – Nein!!«
    * * *
    Es war sein Lächeln – sie hatte sich nie im Auto mitnehmen lassen, wenn sie in die Disco nach Breitenbach oder in den Sportclub nach Bad Orb ging. Er saß in einem blauen Fiesta und strahlte. Es war das Lächeln.
    »He, wo willst du denn hin? Nach Orb? Da brauchst du doch nicht auf den Bus zu warten. Der kommt ja doch erst in 'ner Stunde.«
    Das stimmte nicht. Ockermanns Bus, der Lengbrunn mit Bad Orb verband und dann weiter bis Wächtersbach fuhr, kam alle dreißig Minuten – stand ja auch hier auf dem Fahrplan unter Glas in lauter kleingedruckten, schwer zu lesenden Zahlenreihen: 15.00/15.30/16.00 … Ab neunzehn Uhr war dann Sense, auch das wußte Evi, dann fuhr das dämliche Ding nur noch alle zwei Stunden, und um elf kam der letzte. Sie war einmal ganz schön reingesegelt, als sie nach Breitenbach ins
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