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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter
Autoren: H Anderegg
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Kapitel 1
     
    Mountain Pass, Kalifornien
     
    Die kleine Jane reichte George das Lunchpaket durch die Tür. »Nicht vergessen, Daddy«, sagte sie mit strengem Blick. Auch an seinem letzten Tag. Seine Pranke, durch den dicken Handschuh noch mächtiger, umschloss ihre zarten Finger, dass sie vor Freude jauchzte. Sie ließ das Päckchen fahren, entzog sich seinem Griff und rannte kichernd ins Wohnzimmer zurück.
    Er steckte den Beutel mit den belegten Broten und dem täglichen Apfel in die Brusttasche des Overalls und stieg in seinen Pick-up. Das Thermometer auf dem Armaturenbrett zeigte nur dreißig Grad an. Unter dem Gefrierpunkt, ungewöhnlich kalt für Anfang März. Das gleiche vergilbte Leichentuch bedeckte den Himmel wie schon am Vortag. Keine Spur der roten Morgensonne, die sonst die Spitzen der Berge entflammte, wenn er zur Arbeit in die Mine fuhr. Die Kälte machte ihm nichts aus. Als Baggerführer war er gewohnt, jeder Laune des Wetters zu trotzen. Dennoch hätte er liebend gern auf den kommenden Sommer verzichtet. Frühling und Herbst reichten vollkommen, andere Jahreszeiten brauchte es seiner Meinung nach nicht. Lieber fror er sich die Nase ab auf dem stählernen Steinfresser, als sich tief im Bergwerkskessel bei hundert Grad ohne Schatten kochen zu lassen.
    George drehte das Radio auf. Die Stones, I’m free, einer seiner Lieblingssongs, gute alte englische Rockmusik. Der Titel fasste das Leitmotiv seines Lebens wunderbar zusammen. Frei sein, frei von der kleinbürgerlichen Enge seiner Heimat an der Südküste Englands, weit weg von seiner spießigen Familie, das war noch immer ein berauschendes Gefühl. Das milde Klima und Dorsets Strände vermisste er nicht, oder kaum. Ihm gefiel das herbe, karge Niemandsland am Rande der Mojave-Wüste. Hier hatte er erst richtig zu leben begonnen, die einzige Frau weit und breit gefunden, die gleich tickte wie er und ihm zwei süße Kinder schenkte. Übermannte ihn die Sehnsucht nach Sonne, Sand und Meer, was selten genug vorkam, war er in vier Stunden in Long Beach, Santa Monica oder Venice. Was waren dagegen schon die schmalen Sandbänke und Steilküsten der Jurassic Coast in der Alten Welt. Und überdies war der Job in dieser größten Mine für seltene Erden auf amerikanischem Boden hervorragend bezahlt. Er kannte jedenfalls keinen Baggerführer und Gelegenheitsmechaniker mit auch nur annähernd vergleichbarem Lohn, von der großzügigen Ferienregelung gar nicht zu reden. Sie konnten es sich leisten. Das Zeug, das sie hier im Tagebau aus dem Boden kratzten, war wertvoll wie Gold.
    Die halbe Stunde Philosophie auf der Fahrt durch die grandiose Traumlandschaft bei guter Musik verlief wie jeden Morgen. Erst als er sich dem Parkplatz vor dem Verwaltungsgebäude näherte, sah er, dass etwas nicht stimmte. Fremde Wagen standen beim Eingang, darunter eine Ambulanz und zwei Fahrzeuge des County-Sheriffs.
    »Was zum Teufel ist hier los, Jake?«, fragte er den Wachmann am Schlagbaum.
    Jake zuckte mit den Achseln. »Die Nachtschicht hat etwas zu viel Strahlung abbekommen, glaube ich. Ist wohl alles halb so schlimm.«
    Radioaktive Strahlung - halb so schlimm. Der alte Jake hatte keine Ahnung. George war kein Geologe, aber eines hatte man ihm eingebläut, seit er hier arbeitete: Radioaktives Thoriumoxid war der Todfeind bei der Gewinnung seltener Erden. Erzvorkommen mit Neodym und Dysprosium gab es viele auf der ganzen Welt. Bei den meisten lohnte sich jedoch ein Abbau nicht, weil sie die Elemente in zu geringer Konzentration enthielten, oder weil die Vorkommen mit gefährlichem Thorium verunreinigt waren. Wenn dieses Teufelszeug hier zum Vorschein kam, konnte das ohne Weiteres das Ende der Mine bedeuten. Goodbye Top-Job und glühende Berge.
    »Scheiße«, brummte er, kurbelte das Fenster hoch und fuhr zum Abstellplatz Nummer 25. Sobald er das Haus betrat, war es endgültig vorbei mit der täglichen Routine. Umkleideraum und Kantine schienen aus allen Nähten zu platzen. Männer mit ratlosen Gesichtern standen sich auf den Füssen. Trotzdem hörte man kaum einen Ton. Zentnerschwer lastete die Ungewissheit auf den Arbeitern. Eine trübselige Stimmung wie an einem offenen Grab. Was sollten die Leute auch reden? Sie alle hingen auf Gedeih und Verderb von dieser Mine ab. Sie konnten nur warten und auf gute Nachrichten des Spürtrupps hoffen.
    »Die Ambulanz?«, fragte George leise, nachdem er sich zu seinem Kumpel Ted von der Nachtschicht vorgearbeitet hatte.
    »Falscher Alarm. Sie
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