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Im Westen geht die Sonne unter

Im Westen geht die Sonne unter

Titel: Im Westen geht die Sonne unter
Autoren: H Anderegg
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rumpeln begann, dass ihm das Blut in den Adern gefror. Er drehte sich um und sah gerade noch, wie eine Lawine aus tonnenschweren Felsbrocken und Geröll auf die Leute im Sektor zwei herunter donnerte. Im nächsten Augenblick war nichts mehr von den Weißhemden, den Geologen und ihren Fahrzeugen zu sehen. Sein Atem stockte. Das schreckliche Bild verschwamm vor seinen Augen. Übelkeit stieg in ihm auf. Er musste sich am Rahmen des Baggers festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
    »Ein Albtraum«, lallte er albern. Aber das hier war kein böser Traum, aus dem man einfach erwachte. Das ist ein verdammter Krieg, schoss ihm durch den Kopf. Dann erzitterte der Krater unter der dritten Explosion. Welchen Sektor hat es jetzt erwischt?, war sein nächster Gedanke. Es war der letzte. Die scharfe Kante des Felsblocks trennte seinen Kopf vom Rumpf wie das Beil eines Scharfrichters. Für einen letzten Gruß an die kleine Jane blieb keine Zeit mehr.
    Der künstliche Felssturz begrub auch die Mineure und ihr Gerät im Sektor vier. Die Wucht der Explosionen war so heftig, schleuderte derart ungeheure Gesteinsmassen in den Pit, dass die Bergungsmannschaften später den Krater kaum wieder erkannten. Ohne die verkohlten Ruinen der Gebäude am Kraterrand würde niemand glauben, dass man hier vor Kurzem noch Erz abgebaut hatte.
     
     
    Severn Bore Inn, Gloucestershire, UK
     
    Zwei Dinge standen an diesem eisigen Tag für Ryan fest. Zumindest glaubte er unerschütterlich daran. Punkt eins: er würde diese Monsterwelle reiten, und wäre er der Einzige. Punkt 2: heute war sein Tag. Endlich würde er Jessie ins Bett kriegen. Seit er vor zwei Jahren mit dem Studium der Mathematik in Bristol begonnen hatte, sahen sie sich nur noch an den Wochenenden. Statt zu erkalten, entwickelte sich die Beziehung zu seinem Jugendschwarm durch die Distanz erst recht zu einer tiefen Zuneigung. Einfache Gemüter mochten es Liebe nennen, aber Ryan verabscheute solche ungenauen Allerweltsausdrücke. Überdies verband man mit dem abscheulichen Wort automatisch eine gewisse Symmetrie, für die es in seinem Fall keine stichhaltigen Beweise gab. Andererseits war Jessie kaum je abgeneigt, ihre Freizeit mit ihm zu verbringen. Nach seinem Sprachverständnis konnte man ihr Verhältnis also mit Fug und Recht als gegenseitige Zuneigung bezeichnen. Der einzige Schönheitsfehler an diesem Schluss war, dass meist, oder eigentlich immer bisher, auch ein paar weitere Boys und Girls aus der Weymouth-Clique dabei waren. Man hatte es nicht leicht als Mathematiker.
    Draußen vor dem Pub begann es zu regnen. Der steife Wind trieb die schweren Tropfen in die Fenster, sodass es bald aussah, als steckte der ganze Severn Bore Inn zwischen den Wasserdüsen einer Autowaschanlage fest. Die schwarzen Fetzen am Himmel deuteten nicht auf rasche Besserung, aber das durfte ihn nicht von seinem Vorhaben abhalten. Er pflegte seine Versprechen zu halten, auch wenn sie, wie in diesem Fall, unter zweifelhaften Umständen zustande kamen. Egal, ob er damals besoffen gewesen war oder nicht, er war es auch seinem Ruf als Surfer, der den Teufel nicht fürchtete, schuldig. Und die Welle würde pünktlich um 11:47 Uhr hier eintreffen. Das war mathematisch einwandfrei zu beweisen, sofern Erde und Mond ihre Bahn nicht plötzlich änderten. Der ungeheure Tidenhub von fünfzehn Metern an der Mündung des Severn in den Bristolkanal war der Motor, der auch diese Gezeitenwelle zuverlässig zur angegebenen Zeit den Fluss hinauf und am Pub vorbei treiben würde. Die Trichtermündung hatte genau die richtige Form, um die ideale Surfwelle zu formen. Und an diesem saukalten Morgen, an dem man keinen Hund vor die Tür schickte, war die höchste Welle der Saison angesagt. Also musste er da rein, koste es was es wolle.
    Er wartete bis zum letzten Augenblick, um die Spannung zu erhalten und die Wetten in die Höhe zu treiben. Schlag halb zwölf begann er unter dem Gejohle seiner Freunde und den kritischen Blicken der Frauen, sich mitten im Pub bis auf die Unterwäsche auszuziehen. Dann schlüpfte er in den Neoprenanzug, nahm sein Surfbrett unter den Arm und stapfte ohne ein weiteres Wort entschlossen in den Regen hinaus. Die Freunde bemerkten sein hämisches Grinsen nicht. Wenn sie etwas sehen wollten, mussten auch sie in diese Waschküche hinaus, und sie trugen keinen schützenden Anzug. Während er zum Fluss hinunter stieg, hielt er nach andern Wagemutigen Ausschau, doch er konnte niemanden entdecken.
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