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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt
Autoren: Nick Harkaway
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entsteht) und so weiter. Blitzschnell bewege ich die Hände, schlage zu, stoße und drehe mich. Humbert Pistill springt los. Ich steche ihn ins Auge. Er brüllt und schlägt von oben nach unten. Ich verletze seine Armmuskeln. Er tritt, ich nehme mir das Gelenk vor, blockiere es, überdehne es, lasse es wieder los und husche zur Seite, während er die Stelle verprügelt, wo ich gerade noch war. All dies tue ich, aber es ist noch nicht genug. Irgendwo da drüben liegt Ike Thermite gebrochen am Boden und kann nicht mehr kämpfen. Ike war unendlich viel besser als ich. Ike war ein erfahrener Schüler. Aber auch das reichte nicht.
    Er schlägt mich. Er trifft mich nicht einmal voll, es ist nur ein leichtes Antippen. Dennoch hebt es mich vom Boden hoch und nimmt mir den Atem. Keine Zeit. Ich rolle mich ab und spüre, wie er sich trampelnd nähert. In Bewegung bleiben, nicht verspannen, atmen, überleben. Ich bewege mich. Das Schwert des Blinden: eine Folge von Bewegungen, die man benutzt, wenn man nichts sehen kann, eine Reihe von Täuschungs- und Ausweichmanövern, die so wirken, als erkenne man die Bewegungen des Feindes. Ein Trick. Es funktioniert. Ich bewege mich weiter. Er belauert mich und folgt mir gewandt und schnell. Er ist zu groß, um so schnell zu sein, oder zu schnell, um so groß zu sein. Ich kann ihn sehen und wünschte, ich könnte es nicht. Ein Daumen füllt mein Gesichtsfeld aus, ich ducke mich und ziehe mich schräg zurück. Eine Finte. Ein Tritt trifft meine Brust, und ich spüre, wie sich meine Rippen biegen. Die Lungen leeren sich schlagartig, Farbflecken tanzen vor meinen Augen, zuerst schwarz und weiß, grau und rot, dann purpurn und gelb, die einander überlagern. Dann noch andere Farben, die nicht einmal Namen haben. Als er nachsetzt, weiche ich aus, drehe meine Schulter und stoße ihn ebenso zurück, wie Ike es getan hat.
    Ich werde verlieren.
    Verzweifelt schaue ich auf. Wo ist Sally Culpepper mit ihrem Gewehr? Elisabeth ist auf der Galerie, Leah ist hinter ihr, im Augenblick sicher. Ich wechsele einen Blick mit ihr.
    Und sehe sie.
    Ich sehe Elisabeth Soames in jedem Augenblick, seit ich sie kennengelernt habe. Jede Sekunde und jede Minute. Elisabeth mit einem Kuchen. Elisabeth, die mit dem Fuß aufstampft. Elisabeth als Andromas. Elisabeth, die mich küsst. Elisabeth, von der nur eine einzelne, kleine Mädchensocke zu sehen ist, die über eine Sofalehne ragt. Ich sehe sie vor Millionen Jahren in Meister Wus Haus, als sie nach den Geheimnissen fragt. Nach der Eisenhautmeditation.
    So etwas gibt es eigentlich nicht.
    Aber solche Techniken gibt es. Ich kämpfe gerade gegen jemanden, der eine beherrscht. Also …
    Also erfinde ich eine für mich.
    Du raffinierter, heimtückischer, gerissener Dreckskerl.
    Das Chi ausrichten … den Ozean spüren … du wirst die stärkste Festung erstürmen.
    Ich betrachte Humbert Pistill. Er ist unbesiegbar. Er ist undurchdringlich.
    Er ist mein.
    In diesem Augenblick lege ich mein absolutes Vertrauen in die Hände eines toten Mannes, der im Winter Sandalen trug und davon überzeugt war, das chinesische Raumfahrtprogramm sei aufgrund der Position des Mondes unfairerweise benachteiligt. Vielleicht ist dieser Faden zu dünn, um das Schicksal der ganzen Welt daran zu hängen. Aber wie Spinnenseide ist er stark genug, seinen Zweck zu erfüllen.
    Ich werde langsamer. Es geht hier nicht um das Tempo, sondern darum, dass ich sein muss, wo er mich nicht haben will. Ich bewege mich leichtfüßig. Es geht auch nicht um Stärke, sondern um Timing. Humbert Pistill hackt nach mir, aber ich bin schon nicht mehr da. Er schlägt, aber ich befinde mich nicht mehr in gerader Linie vor ihm, und der Schlag hat keine Kraft. Nun ja, es wirft mir den Kopf herum und tut weh, aber mehr auch nicht. Als er sie zurückzieht, breche ich ihm die Hand. Er zuckt zusammen. Ich husche an ihm vorbei und verpasse ihm eine Ohrfeige. Es tut zwar nicht weh, aber es ist ihm außerordentlich peinlich. Ich habe ihn vor seinen Ninja-Bürschchen wie ein kleines Mädchen geohrfeigt. Ich habe keinen Respekt. So was Dummes auch.
    Er geht auf mich los und versucht, mich mit einem aufwärts geführten Schlag zu erwischen, während ich in die Hocke gehe. Aber ich drehe mich schon weg, und einen Moment lang wirkt er wie ein Angeber, der mit angewinkelten Armen und gespanntem dickem Bizeps am Strand posiert. He, Bluto, wo ist mein Spinat? Dumm gelaufen. Er atmet. Ich atme mit ihm. Bei der Gegenbewegung trifft mich
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