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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt
Autoren: Nick Harkaway
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1 Wie alles begann • Schweine und Krisen
• Begegnung mit dem Management
     
    Um kurz nach neun ging in der Bar ohne Namen das Licht aus. Ich hatte mich über den Pooltisch gebeugt und vor der Anstoßlinie eine Hand auf den hellen Fleck gestützt, der, wie der Wirt Flynn behauptete, von verschüttetem Bier stammte, obwohl er nach Form und Umriss eher Mrs Flynns Hinterteil glich: knapp einen Meter breit und so üppig gerundet wie der Querschnitt eines Apfels. Die Neonröhre über dem Tisch erlosch und flammte wieder auf, das Kühlregal mit der Glastür gab ein tiefes, verunsichertes Brummen von sich. Noch ein elektrisches Knistern, und dann war es dunkel. Im Fernseher auf dem Brett leuchtete schwach die statische Aufladung, gleich darauf ging über der Tür die grüne Lampe an, die den Notausgang markierte.
    Ich ließ mich auf dem Abdruck von Mrs Flynns Hinterteil nieder und spielte trotzdem meinen Stoß. Die weiße Kugel lief flüsternd über das Tuch, prallte von zwei Banden ab und beförderte die Acht sauber in ein Mittelloch. Puff, puff, klack. Perfekt. Allerdings hatte ich auf die Sechs gezielt. Damit hatte ich gegen Jim Hepsobah verloren, und sobald der Strom wieder da war und in der Bar ohne Namen alles wie immer seinen geregelten Gang ging, würde ich das Queue an meinen heldenhaften Kumpel Gonzo weiterreichen, den Jim dann ebenfalls schlüge.
    Jeden Augenblick musste es so weit sein.
    Dummerweise ging aber das Licht nicht wieder an, und irgendwann verblasste auch das Geisterbild auf dem Fernseher. Es gab eine kurze Stille – die Sorte von Stille, die einen aus irgendeinem Grund einen Moment lang traurig macht und schnell wieder vorüber ist. Dann ging Flynn nach hinten raus. Er fluchte wie ein Fuhrknecht, aber falls jemals ein Fuhrknecht Flynn begegnen würde und falls sie sich gegenseitig beschimpfen würden – so eine Art High Noon mit Flüchen –, dann wüsste ich genau, auf wen ich mein Geld zu setzen hätte.
    Flynn startete den Generator, der, Gott helfe mir, mit Schweinen betrieben wurde. Vier große, stinkende Wüstenschweine protestierten, als er sie über Joche mit einem Göpelwerk verband. Die Viecher machten einen Lärm wie ein kleiner Kavallerieangriff. Schließlich deckte Flynn das vorderste Schwein mit einigen seiner abscheulichsten Verwünschungen ein. Das Tier machte schon Anstalten, sich zu übergeben, dann aber schoss es los. Gezwungenermaßen folgten ihm die anderen und wanderten langsam, aber stetig um das Göpelwerk herum. Nach der ersten Runde bemerkte das Schwein Flynn, der gerade zur nächsten Tirade ausholte, und wollte stehen bleiben. Da es mit seinen drei Kollegen am Joch hing, konnte es aber nicht anhalten, also bewegte es seinen Speck etwas schneller und rannte mit schweinischer Höchstgeschwindigkeit an Flynn vorbei. So beschleunigte das Göpelwerk, bis der Generator mit einem grunzenden oder quiekenden Geräusch ansprang. Der Fernsehbildschirm leuchtete auf, und wir hörten die schlechten Nachrichten.
    Oder vielmehr, er ging nicht richtig an, denn das Bild war so düster, dass man meinen konnte, der Apparat wäre kaputt. Wir sahen eine Art Feuerwerk und hörten erschrockene und ängstliche Schreie. Es war sehr leise, bis Sally Culpepper mit einiger Verspätung auf die Idee kam, den Ton aufzudrehen. Das Bild bebte und schwankte, Männer rannten vorbei und riefen: »Haut ab hier!«, »Verschwindet!« oder »Verdammte Scheiße, hast du das gesehen?«, was nicht einmal mit einem Piepston überspielt wurde. Es sah so aus, als wälzte sich in mittlerer Entfernung jemand auf dem Boden. Irgendwo in der Welt lief etwas schrecklich schief, und natürlich war ein Affe mit einer Kamera in der Nähe, der lieber zehntausend Dollar die Stunde an Gefahrenzulage kassierte, als sich die verdammten Ärmel hochzukrempeln, um ein paar Leuten das Leben zu retten. Ich kannte einen Typ, der während der Großen Löschung genau das getan hatte. Er hatte seine kostbare Digi-VII-Kamera in einen Latrinengraben geschmissen und sechs Zivilisten und einen Sergeant aus einem brennenden Krankenwagen geholt. Zu Hause hatte er von der Queen die Ehrenmedaille und von seinem Arbeitgeber die Papiere bekommen. Jetzt sitzt er in einer Anstalt. Er heißt Micah Monroe, und jeden Tag kommen zwei Kameraden vom Veteran's Hospital vorbei, nehmen ihn auf einen Spaziergang mit und achten darauf, dass die Medaille ordentlich poliert im Etui auf dem Nachttisch steht. Harry und Hoyle sind reizende alte Knacker, die selber
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