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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt
Autoren: Nick Harkaway
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in Lissabon renoviert worden war. Gonzo behauptete, er hätte mal mit ihr geschlafen, und sie hätte die langen Beine um seine Hüften geschlungen wie Pythonschlangen aus italienischem Kalbsleder. Danach wäre er dann halb tot gewesen und hätte bis über beide Ohren gegrinst. Es sei eines Abends nach einem großen Job passiert, das Bier sei in Strömen geflossen, und alle hätten vor Freude über ihren Erfolg wie Honigkuchenpferde gestrahlt. Es sei zu der Zeit gewesen, als Jim und Sally noch so getan hatten, als wären sie nicht zusammen, und bevor sie sich ins Unvermeidliche geschickt hatten und zusammengezogen waren. Immer wenn wir uns trafen, ich und Gonzo, Sally und Jim und die anderen, grinste Gonzo sie lüstern an und fragte nach ihrer anderen Tätowierung, worauf Sally Culpepper nur geheimnisvoll lächelte, was bedeutete, dass sie nichts dazu sagen würde. Vielleicht hatte er diese andere Tätowierung gesehen, vielleicht auch nicht. Jim Hepsobah tat dann immer so, als hätte er es nicht gehört, weil er Gonzo wie einen Bruder liebte. Wenn man jemanden so liebt, kann man trotzdem erkennen, dass er manchmal ein Arschloch ist, aber es stört einen dann nicht. Wir alle mochten Sally Culpepper, die uns mit ihren durchsichtigen Wimpern und dem Engelsgesicht regierte – und mit ihren schlanken Armen, die wie ein Dampfhammer Kinnhaken austeilen konnten. Nun stand sie da, und wir bemühten uns, einigermaßen ruhig und aufmerksam zu bleiben, denn wenn der Anruf kam, dann kam er über ihr Handy. Sie hatte hier den besten Empfang, und genau deshalb war die Bar ohne Namen auch unser Firmensitz.
    Also hörten wir auf, nach verlorenen Socken und Rucksäcken zu suchen und uns darüber zu sorgen, wir könnten noch den Startschuss verpassen, und ließen uns an Mrs Flynns Futternäpfen nieder. Nach einer Weile begannen wir dann doch wieder leise zu schwatzen und redeten über kleine häusliche Aufgaben wie etwa Abwasserkanäle zu säubern und Fledermäuse vom Dachboden zu verjagen. Wenn das Telefon klingelte, was jetzt jeden Augenblick passieren konnte, würden wir losziehen und vor der ganzen Welt als Helden dastehen. Das mochte Gonzo ganz besonders, und notgedrungen war ich ab und zu dabei. Bis es aber losging, hielten wir uns zurück. Dann wurde es in der Bar ohne Namen wieder ganz still. In kleinen Gruppen und einer nach dem anderen verstummten wir, während wir eine grauenhafte Erscheinung beobachteten.
    Ein kleines Kind, das einen mit Rotz bekleckerten und auch sonst nicht mehr ganz neuwertigen Teddybär herumschleppte, kam wichtig in den Raum hereinmarschiert, betrachtete uns mit strengem Blick und wandte sich an die Wirtin Flynn, um mit der Beweisaufnahme zu beginnen.
    »Warum war es so dunkel?«, wollte es wissen.
    »Der Strom ist ausgefallen«, erwiderte die Wirtin Flynn. »Es ist ein Feuer ausgebrochen.« Das Kind sah sich böse um.
    »Die Männer da sind laut«, sagte es immer noch empört. »Und der da ist dreckig.« Es zeigte auf Gonzo, der zusammenzuckte. Dann nahm es sich Sally Culpepper vor.
    »Die Frau da hat eine Blume auf dem Rücken«, fügte es hinzu. Nachdem es genügend Beweise für unsere Schlechtigkeit gesammelt hatte, ließ es sich auf dem Fußboden nieder und futterte ein Brötchen mit Käse und Speck. Wir starrten es an und versuchten, die Erscheinung zu vertreiben, indem wir uns die Augen rieben.
    »Entschuldigung«, sagte die Wirtin Flynn. »Wir lassen ihn normalerweise nicht raus, aber dies ist ein Notfall.« Ohne jeden Vorwurf wandte sie sich an das Kind. »Mein Süßer, du darfst das nicht essen, es hat neben dem schmutzigen Mann auf dem Boden gelegen.«
    Gonzo hätte sicher gern Einwände erhoben, aber er hatte nicht einmal zugehört, sondern starrte nur in stummem Entsetzen das Kind an, genau wie ich und vermutlich alle anderen auch. Es war zweifellos ein menschliches Kleinkind, und aus dem Kontext mussten wir gewisse Schlussfolgerungen ziehen, die unbehaglich und sogar widerwärtig waren. Dieses Kind, in ein Badehandtuch gepackt und gerade damit beschäftigt, sich ein pfannkuchengroßes Körnerbrötchen ins Ohr zu stopfen, war Sprössling Flynn.
    Der Brand des Jorgmund-Rohrs wirkte schon beunruhigend genug. Er verkörperte Gefahr und Verdienstmöglichkeit, mit großer Sicherheit auch Täuschungen und Intrigen. Jedoch ließ er sich mit unserem gewöhnlichen Verständnis durchaus erfassen. Manchmal gerieten Dinge in Brand oder explodierten, und dann kamen wir und brachten die Sache wieder in
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