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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt
Autoren: Nick Harkaway
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hatte ich mal gesehen – lange schwarze Kästen mit geschwungenen Seiten, überall Leitungen und Schläuche, ziemlich gespenstisch. Weniger einem Ei als vielmehr einer Raumkapsel oder einem Bathyskaphen ähnlich, nur dass es hier genau andersherum lief. Es war kein Gerät, mit dem man durch eine lebensfeindliche Umgebung fuhr, sondern eher eines, das die Außenwelt weniger feindselig machte.
    Die meisten Menschen gaben sich große Mühe, die Leitung zu übersehen. Sie benutzten Umschreibungen dafür, als wäre sie etwas wie Krebs, Impotenz oder der Teufel, was ja irgendwie sogar stimmte. An manchen Stellen bemalten sie das Rohr mit kräftigen Farben und taten so, als wäre es ein künstlerisches Projekt. Oder sie bauten irgendetwas davor oder züchteten sogar Blumen darauf. Nur in unbedeutenden entlegenen Orten wie diesem bekam man den Originalzustand zu sehen. Das rostige, verachtete Rückgrat unserer Existenz, das für Stabilität und Sicherheit sorgte und die Illusion der Kontinuität in jeden Winkel und jede Ecke der Lebenszone beförderte.
    In Wahrheit handelte es sich gar nicht um einen Kreis, sondern um ein wirres Gebilde, das an ein Vogelnest erinnerte. Da waren Haarnadelkurven und korkenzieherförmige Abschnitte, an einigen Orten entsprangen Nebenäste aus der Hauptleitung, um kleine Städte am Rand zu versorgen, und es gab einige Stellen, wo sich die Lebenszone eng an das Rohr schmiegte: wie eine Matrone, die mit hochgerafften Röcken einen Bach überquert, weil dort das Wetter und die Beschaffenheit des Landes die Außenwelt gefährlich nahe heranließen. Insgesamt aber entstand am Ende doch annähernd ein Ring um die Erde. Eine Zone, in der man sich heimisch fühlen konnte.
    JR, so nannten sie das Rohr in Haviland City, wo sich der Hauptsitz der Jorgmund Company befand, oder manchmal hieß es auch die große Schlange oder der Silberreif. Wenn man sich mehr als zwanzig Meilen von ihm entfernte, erreichte man das lebensfeindliche Niemandsland zwischen der Lebenszone und dem verdammten Albtraum der irrealen Welt da draußen. Manchmal war man dort sicher, meistens aber nicht. Wir nannten es die Grenze, die wir gelegentlich überschritten, wenn es nötig war, um in angemessener Zeit unser Ziel zu erreichen, weil ein bestimmter Notfall nicht warten konnte und die Alternative darin bestanden hätte, an drei Seiten eines Quadrats entlangzufahren. Auf jeden Fall wagten wir uns nur in voller Besetzung, mit hohem Tempo und leichtem Gepäck dort hinaus. Das Wetter behielten wir ständig im Auge. Falls der Wind umschlug oder der Druck abfiel, falls wir Wolken am Horizont sahen, die uns nicht gefielen, oder falls wir eigenartige Leute oder Tiere bemerkten, mit denen etwas nicht stimmte, machten wir auf der Stelle kehrt und eilten zur Leitung zurück. Die Leute, die an der Grenze lebten, blieben nicht immer normale Leute. Wir hatten FOX in Kanistern dabei und hofften jedes Mal, es würde ausreichen.
    Den Gerüchten nach waren vor kurzer Zeit einige entlegene Orte vernichtet worden. Zerstört und niedergebrannt von Leuten oder Beinahe-Leuten, die von jenseits der Grenze hereingekommen waren. Aus den Gebieten, die sich ständig veränderten, dort, wo sich die wirklich üblen Kreaturen herumtrieben. Deshalb verstärkten die Schergen der Firma ihre Patrouillen und stellten mehr Fragen als sonst, und die Leute blieben näher an der Leitung, wo sie in Sicherheit waren. Wenn man vom Weg abkam, konnte man manchmal zurückkehren, vielleicht aber auch nicht. Auf jeden Fall veränderte es einen. Das mag seltsam und schrecklich klingen, bis man erkennt, dass es eigentlich doch so ist, wie es schon immer war. Falls Sie meinen, dem sei nicht so, dann liegt es daran, dass Sie noch nie den kleinen Streifen verlassen und sich anderswo umgesehen haben, wo die Luft ein bisschen dünn werden könnte.
    Dröhnend näherte sich der Konvoi, die Scheinwerfer des Kommandowagens wanderten hin und her. Manchmal erfassten sie uns, manchmal beleuchteten sie den Sand und Dreck in der Nähe. In Naturfilmen sind Wüsten immer weite, erhabene Gegenden voll von wilder Majestät: fotogene Ameisen, beeindruckende Spinnen, die blitzsauber wirken, weil die Dreckkrümel bei dieser Vergrößerung das Ausmaß von Felsblöcken bekommen. Unsere Wüste war dagegen eine Art Müllkippe. Bei Westwind rochen wir heißes Metall, Diesel und kampfbereite Männer. Bei Ostwind nahmen wir den Duft von angestrengt arbeitenden Schweinen wahr. Keiner der Düfte war geeignet,
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