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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt
Autoren: Nick Harkaway
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auch Auszeichnungen erhalten haben und der Ansicht sind, dies sei das Mindeste, was sie für einen Mann tun können, der sich über alles hinweggesetzt und dabei den Verstand verloren hat. Harrys Sohn war auch in diesem Krankenwagen. Er gehörte aber zu denen, die Micah nicht mehr retten konnte.
    Wir starrten den Bildschirm an und rätselten herum, was dort gezeigt wurde. Im ersten Augenblick sah es aus, als würde das Jorgmund-Rohr brennen, was aber ungefähr das Gleiche bedeutet hätte, als würde jemand behauptet haben, ihm sei der Himmel auf den Kopf gefallen. Diese Leitung war das stabilste Bauwerk auf der ganzen Welt – dreifach redundant, kompromisslos auf Sicherheit ausgelegt und einzigartig. Zuerst hatten wir es schnell hingepfuscht, weil es nicht anders ging, und danach hatten wir es unzerstörbar gemacht. Die Besten hatten die Pläne gezeichnet, woraufhin die Allerbesten sie mehrfach überprüft hatten. Dann hatte man die Prüfer selbst unter die Lupe genommen, ob irgendwo Sabotage, Märtyrertum oder vielleicht einfach nur ein bislang unerkannter Fall von Dummheit im Spiel wären, und schließlich hatten sich die Baufirmen an die Arbeit gemacht. Dabei waren Gründlichkeit und die Einhaltung der Pläne wichtiger gewesen als die rasche Vollendung. Betrügern und Halsabschneidern hatten derart drastische Strafen gedroht, dass es für sie angenehmer gewesen wäre, sich von einem Hochhaus zu stürzen. Zu guter Letzt waren die Materialprüfer und Katastrophenexperten mit Hämmern, Sägen, Blitzgeneratoren und Torsionstests darüber hergefallen und hatten den Bau für sicher erklärt. Jeder in der Lebenszone wollte ihn erhalten und schützen. Es war absolut ausgeschlossen und einfach unvorstellbar, dass er brennen konnte.
    Dennoch brannte es lichterloh, das Rohr glühte sogar weiß auf. Wie Magnesium. Wie der Bauch einer Leiche. Ein Übelkeit erregendes Weiß. Daneben waren Gebäude und Zäune zu sehen, was bedeutete, dass es nicht nur die Leitung getroffen hatte, sondern etwas noch Wichtigeres, vielleicht ein Pumpwerk oder eine Raffinerie. Überall wallte heißer, fettig schimmernder Rauch, und im Herzen des Brandes passierten Dinge, mit denen das menschliche Auge nichts anfangen konnte. Verrückte, gefährliche Dinge, die mit Lauten untermalt waren, die von panischen Menschen stammten. Irgendetwas Wichtiges ging auf dem Bildschirm in Rauch und Flammen auf.
    »Verdammter Mist«, sagte Gonzo William Lubitsch und sprach damit aus, was alle dachten.
    Es war ein komisches Gefühl. Wir beobachteten – wieder einmal – das Ende der Welt und sahen Dinge, die wir lieber nicht gesehen hätten, aber gleichzeitig verhieß uns dies auch Ruhm, Reichtum und so ziemlich alles, was wir von einem dankbaren Publikum je erwarten konnten. Wir betrachteten gewissermaßen, was unsere Daseinsberechtigung ausmachte. Denn das da auf dem Bildschirm war ein Feuer, zugleich aber auch ein toxisches Ereignis der schlimmsten Art, und wir, meine Damen und Herren, wir konnten uns bei den Händen fassen, denn wir waren die Haulage & Hazmat Emergency Civil Freebooting Company of Exmoor County mit Hauptsitz in der Bar ohne Namen. Unsere Geschäftsführerin war Sally J. Culpepper, und so einen Brand zu bekämpfen, war genau die Sache, die wir besser konnten als jeder andere in der ganzen Lebenszone und somit auf der ganzen Welt. Sally sprach sofort mit Jim Hepsobah und dann mit Gonzo, schrieb Listen und gab Befehle. Flynn, der Wirt, beauftragte sie, seinen hochkarätigen Espresso zu kochen, und inzwischen hatte sich sogar Mrs Flynn von ihren eingebauten Sitzkissen erhoben, um mit bemerkenswerter Geschwindigkeit ihre Vorkehrungen zu treffen: Leichenanhänger vorbereiten und Briefe an die Angehörigen, Enterbten und alle anderen entwerfen, die für uns alle in der dicken Luft der Bar ohne Namen irgendwie von Bedeutung waren. Unterdessen rannten wir hin und her und stießen gegeneinander, weil wir noch nichts zu tun hatten. Der Tumult und Krawall dauerte an, bis Sally auf den Pooltisch stieg und uns sagte, wir sollten den Mund halten und wieder zu uns kommen. Sie hob ihr Handy, als wäre es der Knochen eines Heiligen.
    Sally Culpepper war einsachtzig groß und bestand überwiegend aus Beinen. Auf dem rechten Schulterblatt hatte sie eine Tätowierung. Eine Orchidee, gestaltet von einem Kerl, an dem ein Michelangelo verloren gegangen war. Sie hatte einen Erdbeermund, milchweiße Haut und Sommersprossen auf der Nase, die nach einer Kneipenschlägerei
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