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Die Geometrie der Wolken

Die Geometrie der Wolken

Titel: Die Geometrie der Wolken
Autoren: Giles Foden
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Es ist Rettungsarbeit, wenn man verschwindende Phasen von Turbulenz, in schöne Worte gehüllt, aus ihrer ursprünglichen Verborgenheit ins Licht holt, wo die zuckenden Formen sichtbar, ergreifbar werden und wo ihnen die einzige mögliche Form von Dauerhaftigkeit auf dieser Welt der relativen Werte verliehen werden kann - die Dauerhaftigkeit der Erinnerung.
     
    JOSEPH CONRAD,
    »Henry James, An Appreciation« (1905)
     
    Datum: 22. Januar 1980
Position um 06.00 Ortszeit (GMT):
54° 26' südliche Breite, 3° 24' östliche Länge
Vor der Bouvetinsel
Leinen los, Mawson Station: 11. Januar
Nächster Zielort: Kapstadt
Geschätzte Ankunftszeit: 1. Februar
Verbleibende Distanz: 1277 sm
Aktuelles Wetter: Bewölkt und kalt
Seegang: Gefroren
Wind: 15 kt Ost
Luftdruck: 975 mb
Lufttemperatur: -1,9 °C
Wassertemperatur: -1,5 °C
     
    Gestern geschah in aller Herrgottsfrühe etwas Unerwartetes. Ich ging an Deck und fand die
Habbakuk
in lichten Nebel gehüllt vor. Einzelne Sonnenstrahlen stachen hindurch. Während ich über das hölzerne Deck ging, stieg plötzlich ein gigantisches Phantom aus dem Meer. Ich schreckte vor einer großen Gestalt zurück, die auf eine Wand aus Eis projiziert wurde. Die Wand war ein Eisberg - und das Phantom, wie ich merkte, war mein enorm vergrößertes Spiegelbild.
    Ich starrte mein Abbild auf dem Eis an, das durch irgendeinen Streich des Lichts im Nebel gedehnt erschien. Wenn ich die Arme oder Beine regte, folgte die Gestalt auf dem Eisberg den Bewegungen und änderte ihre Haltung genau wie ich. Said gesellte sich dazu und lachte. Bald machte die ganze Besatzung mit, Araber und Belutschen, selbst Schlomborg und der Scheich. Alle bewegten Arme und Beine. Alle lachten. Fröhliche Phantome. Dann löste sich der Nebel mit einem Zischen auf, und die Gestalten waren verschwunden. So ist das Leben der Menschen.
    Von meinem eigenen möchte ich nur das Wesentliche berichten. Vor vier Jahren wurde ich von den Mitarbeitern eines arabischen Scheichs angesprochen. Er benötigte wissenschaftlichen Rat bei dem Projekt, Eisberge in seine Heimat zu schleppen, um so Süßwasser in die Wüste zu bringen. Ohne Kosten und Mühen zu scheuen, hatte er mich als den einzigen Überlebenden ausfindig gemacht, der noch Pläne von Pykes Eisbergschiff hatte.
    Einige einfache Berechnungen hatten ergeben, dass das Vorhaben, einen
reinen
Eisberg bis zur Wüste zu schleppen, nicht durchführbar war. Wenn man allerdings Pykerete anstelle reinen Eises verwendete, wirkte das Projekt nicht mehr so abwegig - auf keinen Fall abwegiger als Pykes ursprünglicher Plan für die
Habbakuk
aus den vierziger Jahren. (Seine Sekretärin hatte den Namen des alttestamentlichen Propheten falsch geschrieben, der als Deckname für das Projekt in Whitehall gedient hatte, und ich sah keinen Grund, ihn zu ändern.)
    Neunundneunzig Prozent des gesamten Eisvorkommens der Erde befinden sich in der Antarktis - dem fransigen weißen Schleier der Erde, der unberührten Region. Sie war der naheliegende Ausgangspunkt für unser Vorhaben, denn wenn man von dort der ostafrikanischen Küste nach Norden folgt, gelangt man direkt nach Saudi-Arabien, an unser Ziel. Gearbeitet wurde während des antarktischen Sommers, von Mitte November bis Ende Januar, über drei Jahre in Folge.
    Zwischen den großen schimmernden Eisschollen und schwarzen Basaltfelsen der Antarktis - sie stehen wie Füße unter dem weißen Burnus des Gletschers hervor - sah ich unserem strahlenden Projekt beim Wachsen zu, wobei es die unberührte Landschaft mit Holzbrettern, Stahlgittern, Pumpen wie Wasserspeiern, Zerkleinerern und Häckslern überzog.
    Die visuelle Information ist schwindelerregend. Es ist, als sähe man die Welt durch die Augen einer anderen Spezies - eines der Albatrosse, die einsam über dem Bauort kreisten, eins mit der wirbelnden Wolke und dem weißen Gemisch aus Rauch und Nebel. Unter diesem Schleier trieben echte Eisberge in einem Zusammenfluss verschiedener Strömungen; sie sahen aus wie Grabsteine, Monolithe, Monumente einer zerstörten Welt.
    All dies fand unter freiem Himmel statt. Versteckt blieb meine große Angst, dass dieses gewaltige Projekt, dieses »Unsinkbare Mammutschiff«, wie Pyke es einmal nannte, dieser wahrhaftige, aus dem Kriegsgrab auferstandene weiße Elefant schmelzen würde, bevor er seinen Bestimmungsort erreichte.
    Aber die Zahlen sprachen dagegen. Wie ich sie auch drehte und wendete, die Berechnungen hielten stand.
    Das Schiff wurde vor der
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