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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt
Autoren: Nick Harkaway
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Ordnung. Eine sich vermehrende Bevölkerung von Flynns war dagegen ein ganz anderes Kapitel. Wir betrachteten Flynn als unser persönliches Monster, einen zwar ungefährlichen, doch beunruhigenden Oger, von bestürzender Gewöhnlichkeit, aber leicht durchschaubar. Er gehörte uns, er war mächtig, und wir waren es auch, weil wir uns mit ihm zusammentaten. Der Beweis seiner gefährlichen, überbordenden Männlichkeit waren seine furchtlosen sexuellen Zusammenkünfte mit der umfangreichen Mrs Flynn. In einer Welt, die vollständig aus dicht gestaffelten Flynn-Wesen bestand, aus beleidigenden, mürrischen Geschöpfen, die nicht einmal Schuldscheine annahmen, wollten wir aber nun wirklich nicht leben. Das wäre eine neue Weltordnung, die auch die Tapfersten unter uns als unerträglich empfunden hätten. Das jüngste Produkt, Sprössling Flynn, war inzwischen schon dabei, zermatschte Käsestücke auf Gonzos Stiefel zu kleistern. Mrs Flynn bemerkte es offenbar nicht, beendete irgendwelche Hausarbeiten, ob sie nun Tücher faltete oder wischte, und trottete hinaus. Sprössling Flynn wiederum achtete nicht auf seine Mutter, sondern biss seitlich in das schmutzige Brötchen.
    »Knusprig«, sagte Sprössling Flynn.
    Sally Culpeppers Handy zwitscherte leise, und alle taten so, als bemerkten sie es nicht.
    »Culpepper«, meldete sich Sally und klappte es gleich darauf wieder zu. »Verwählt.« Wir taten alle so, als machte es uns nichts aus.
    Eine Weile war das Schmatzen des Kleinkindes das einzige Geräusch in der Bar ohne Namen, während eine Menge harter, unflätig daherredender Männer und Frauen ihren verstörten, ungewohnten Gedanken über Zeit, Sterblichkeit und Familie nachhingen. Schließlich durchbrach nicht etwa ein Anruf die Stille, sondern ein Geräusch, das so tief war, dass man es eigentlich kaum noch ein Geräusch nennen konnte.
    Zuerst nahmen wir es als eine Art aufdringliche Stille wahr. Das Rumpeln und Rauschen in der Wüste ringsum hörte nicht auf, wurde aber von dieser tiefen Stille im Bassregister irgendwie unterdrückt. Als Nächstes spürten wir in den Knien und Fußgelenken eine Kälte oder aber eine Art Schwäche, wie bei einem Herzanfall, und dann eine Vibration. Nach einer Weile war es dann wirklich hörbar – ein rhythmisches Pochen, das im Brustkorb widerhallte und uns erklärte, dass wir an diesem Tag Beutetiere waren. Wer es einmal gehört hatte, vergaß es nie wieder. Uns war es natürlich sofort klar, denn genau dieses Geräusch hatten wir bei unserem Treffen selbst erzeugt: das Geräusch von Soldaten. Irgendjemand stellte rings um die Bar ohne Namen eine ansehnliche Truppe auf, und das bedeutete, dass mit diesem Jemand nicht zu spaßen war. Da die Soldaten wohl kaum aufmarschierten, um uns zu verhaften, und da wir, falls dies doch der Fall war, sowieso nichts hätten tun können, drängten wir uns alle durch die große Kiefernholztür der Bar hinaus, um ihre Ankunft zu beobachten.
    Draußen war es kalt und trocken. Die Nacht hatte längst begonnen, geisterstundendunkel war es, und der Sand hatte seine Wärme längst abgestrahlt. Ein kalter Wind strich über die Holzdächer der Bar und der Nebengebäude und über die elenden Hütten und Fertighäuser, aus denen die hoffnungslose Stadt Exmoor mit ihren 1309 Einwohnern bestand. Vor dem Millgram's Hill hob sich unser Abschnitt des Jorgmund-Rohrs ab. Eine einfache dunkelgraue Linie, die von Flynns Schlafzimmerfenster und der Laterne auf der Koppel beleuchtet wurde. Hier und dort waren auch die Reflexe einiger anderer einsamer Häuser zu erkennen. Das Rohr verlor sich in beiden Richtungen in der Dunkelheit, und irgendwo auf der anderen Seite des Globus trafen sich diese beiden Linien wieder. Sicherlich an einem Ort, der erheblich lebendiger und interessanter wirkte als Exmoor. Auf der Leitung befand sich alle paar Meter eine kleine Düse, die gutes, sauberes FOX in den Himmel sprühte. Den magischen Trank, der Tag für Tag den Teil der Welt, über den wir noch verfügten, mehr oder weniger in Schuss hielt. Niemand wusste, woher es kam und wie man es herstellte. Die meisten Leute stellten sich irgendeine große Maschine vor, die einem glänzenden Ei ähnelte und mithilfe von allerhand Drähten und Lichtern das FOX aus Luft und Fusel kondensierte und in riesige Behälter tröpfeln ließ. Es gab Tausende davon, sie waren empfindlich und lebenswichtig, und man konnte nur hoffen, dass sie die Arbeit niemals einstellten. Einige der beteiligten Maschinen
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