Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn

Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn

Titel: Eine fast perfekte Tarnung Meisterspionin Mary Quinn
Autoren: Y Lee
Vom Netzwerk:
Eins
    Samstag, 2.   Juli
    St. John’s Wood
    D ie Freiheiten, die man als Junge genoss, so überlegte Mary, waren zahlreich. Sie konnte beim Gehen die Arme pendeln lassen. Sie konnte rennen, wenn sie das wollte. Sie sah anständig genug aus, um bei der Polizei kein Misstrauen zu erregen, und schäbig genug, um auch sonst niemandem aufzufallen. Dazu kam das alte Gefühl der Leichtigkeit, das man verspürte, wenn man die Haare kurz geschnitten trug; es war ihr gar nicht aufgefallen, wie schwer ihr eigenes Haar war, bis sie es abgeschnitten hatte. Ihr Busen war fest umwickelt, und wenn das auch etwas unangenehm war, so konnte sie sich im Gegenzug ganz ohne Scham kratzen. Sich in aller Öffentlichkeit zu kratzen war eine der Jungs-Freiheiten, die sie genießen sollte, solange es ging. Deshalb war es eigentlich schade, dass sie die Situation nicht mehr genoss. Jungenkleider zu tragen war bequem und machte Spaß und während ihres ersten Einsatzes hatte sie ihre Ausflüge in Hosen sehr genossen. Aber das hier   – heute   – war eine ganz andere Situation. Eine ernsteAngelegenheit, und sie wusste immer noch nicht, worum es ging.
    Ihre Anweisungen waren einfach genug: sich als zwölfjähriger Junge zu verkleiden und um drei Uhr nachmittags zu einem Treffen in der Agentur zu erscheinen. Sie hatte keine weitere Erklärung erhalten, und inzwischen war Mary zu klug, um nachzufragen. Anne und Felicity gaben nur exakt so viel Information preis, wie sie für nötig hielten. Obwohl Mary das wusste, hatte sie das nicht davon abgehalten, den gestrigen Tag, die Nacht über und den ganzen Vormittag darüber nachzugrübeln, was sie wohl erwartete. Im vergangenen Jahr hatte sie mit Freude ihr Training absolviert: Tests, Lektionen sowie kleine Einsätze, die einen Vorgeschmack auf ihr zukünftiges Leben boten. Aber am heutigen Morgen empfand sie wenig Freude. Was wollten Anne und Felicity von ihr? Und was für ein Einsatz war wohl mit dieser Verkleidung verbunden?
    Die Agentur war von Frauen gegründet worden und beschäftigte nur Frauen. Der geniale Gedanke dahinter lag darin, sich allgemeine Vorurteile über Frauen zunutze zu machen. Die Geheimagentinnen verkleideten sich als Hausangestellte, Erzieherinnen, Sekretärinnen, Gesellschafterinnen   … kurz, als Leute ohne Macht und Einfluss. Auch in den gefährlichsten Situationen kamen die wenigsten Menschen auf die Idee, eine Frau in untergeordneter Stellung könnte intelligent und aufmerksam oder gar eine professionelle Spionin sein. Angesichts dieser Leitlinien derAgentur kam es Mary besonders absurd vor, als Junge verkleidet zu sein.
    Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, hielt jedoch mittendrin inne: Das war eine typische Mädchengeste. Und das Einzige, das schlimmer war, als ihren Auftrag nicht zu verstehen, war, ihn auch noch schlecht auszuführen. Während sie sich der Acacia Road, dem Sitz der Agentur, näherte, presste Mary die Lippen aufeinander und holte ein paarmal tief Luft. Am liebsten hätte sie kehrtgemacht und wäre noch ein letztes Mal um den Regent’s Park gelaufen, um ein wenig mehr Zeit zu haben und die Sache noch einmal zu durchdenken. Dabei lief sie schon seit zwei Stunden in St. John’s Wood durch die Gegend! Als ob körperliche Bewegung ihr Gemüt und ihre Nerven hätten beruhigen können! Als ob sie überhaupt in der Verfassung wäre, um die verwirrenden Gefühle, die sie bedrückten, zu ordnen.
    Es war an der Zeit zu handeln, statt zu grübeln. Mit ein paar raschen Schritten erreichte sie das Haus mit seinem schmiedeeisernen Tor und dem polierten Schild aus Messing: MISS SCRIMSHAWS MÄDCHE N-Institut . Das Institut war schon seit Jahren ihr Zuhause. Aber heute zwang sie sich, das Haus so zu betrachten, wie es ein Fremder wohl getan hätte; vor allem ein zwölfjähriger Junge. Das Haus war groß und in gutem Zustand, hatte einen gepflegten Garten, durch den ein Plattenweg lief. Anders als bei den Nachbarhäusern waren die Stufen allerdings nur gefegt und nicht weiß getüncht. Dass sich die Akademiediesem Brauch   – aller Welt zu zeigen, dass man Bedienstete hatte, die man damit beschäftigte, die Stufen neu zu weißeln, sobald sie von einem Besucher mit Fußabdrücken beschmutzt worden waren   – nicht anschloss, war das einzige Zeichen für die andersartige und ungewöhnliche Institution, die dort ansässig war.
    Plötzlich flog die Tür auf und spuckte zwei Mäd chen aus   – oder besser, zwei junge Damen. Sie waren adrett gekleidet, nicht
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher