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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt
Autoren: Nick Harkaway
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sein Ellbogen. Ich werde fast ohnmächtig. Aber als er nachsetzt, ist er schon wieder an der falschen Stelle, weil ich an der richtigen bin. Ich trete auf seinen Spann. Ein Knochen bricht. Er ist hart im Nehmen und ignoriert es, aber es scheint trotzdem wehzutun. Sein Atemrhythmus ist gestört, als er ein schmerzvolles Grunzen unterdrückt.
    Ich berühre Humbert Pistill, ich lausche ihm. Ich lasse meine Hände auf ihm ruhen, während ich seine schrecklichen Schläge ablenke. Ich schmecke die Luft, die er ausatmet. Ich lerne ihn kennen und verstehe, wie er sich bewegt. Ich weiß, wo er stark ist und wo nicht. Er ist eine Festung, aber nicht unverwundbar. Ich atme aus. Ich atme ein. Humbert Pistill kämpft gegen seine Schmerzen an. Es ist unwichtig. Er atmet aus. Er atmet ein.
    Jetzt bewegen wir uns im gleichen Takt. Ich spiegele ihn, folge seinen Schritten. Ich bleibe an ihm dran, husche hin und her, ducke mich und tauche weg. Seine Streitkolbenhand fährt mit einem schrecklichen Sausen über meinen Kopf hinweg. Es frustriert ihn. Er stellt mir weiter nach, und schließlich verfolgt er mich. Er weiß es nicht. Er glaubt, er gebe das Tempo vor, aber er unterwirft sich einem Rhythmus, synkopiert und kompliziert. Der Rhythmus verändert sich, aber ich kann folgen, weil ich ihn genau kenne. So genau, dass ich keinen Fehler mache. Ich kann aus dem Rhythmus ausbrechen, mein Gegner nicht. Ihm ist nicht einmal klar, dass er dem Rhythmus folgt. Er hat sich in eine Waffe verwandelt, in ein gepanzertes Monster. Es wäre sinnlos, auf einen Rhythmus zu achten. Ich atme aus. Er auch. Ich atme ein. Er ebenfalls. Wir sind verbunden.
    Wir kämpfen noch eine Weile, wir atmen. Wichtig ist, dass ich kleiner bin als Humbert Pistill. Ich brauche viel weniger Energie. Ich brauche auch nicht so viel Sauerstoff. Sein Herz schlägt schneller. Er wird langsam müde, und das gefällt ihm nicht. Er versteht es nicht. Ich sehe es ihm an. Er ist gereizt und ein wenig nervös – so sollte er sich eigentlich nicht fühlen. Nicht so rasch. Solche Übungen absolviert er jeden Tag. Er ist so ziemlich der härteste Schweinehund auf der Welt. Auch wenn er nicht mehr jung ist, er ist doch in Topform. Er kann nicht müde sein. Also muss er sich durchkämpfen. Der Feind steht vor ihm.
    Ich atme. Er atmet. Er lässt eine so schnelle Kombination von Schlägen los, dass ich keine Ahnung habe, wie ich sie abblocken könnte. Das ist nicht nötig, weil ich nicht dort stehe, wo er mich treffen will. Als er sich zum Angriff entschloss, habe ich meine Position verlassen. Wieder verpasse ich ihm eine Ohrfeige, weil dieser Mann mich töten will. Deshalb habe ich kein schlechtes Gewissen, wenn ich ihn verhaue. Die Ninja-Jungs wirken jetzt ausgesprochen schockiert und unglücklich. Sie beobachten ihn wie gebannt, während sie gegen die Schule des Stummen Drachen kämpfen und den Bereich um uns herum freihalten. Komm schon, Humbert! Zerbrich ihn wie einen Zweig! Er ist schwach! Was hindert dich nur daran?
    Es eilt nicht.
    Humbert Pistill ist fünfundfünfzig. Das bedeutet, dass sein Herz nicht viel mehr als hundertsechzig Schläge pro Minute verträgt, wenn er gesund bleiben will. An seinem Hals schwillt eine Vene an. Er müsste jetzt bei hundertsiebzig sein. Ich atme. Er folgt mir immer noch. Wir tanzen einen eigenartigen Tanz miteinander. Wieder lässt er zwei Schläge lang los, aber sie sind schwach und langsam. Er hat nicht mehr genug Sauerstoff im Blut. Eigentlich sollte er sich zurückziehen, aber das wird er nicht tun. Das entspricht ihm nicht. Schwäche ist der Feind. Überwinde sie. Ich beobachte ihn. Es ist an der Zeit. Ich weiche einem Schlag aus, drehe mich, bis ich vor ihm stehe – und blicke ihm seufzend in die Augen.
    Ich lege alles hinein, was ich habe. Ich gebe ihm meinen Kummer, den ich empfand, als ich von Meister Wus Tod erfuhr. Ich gebe ihm das Entsetzen des armen, verrückten George Copsen, als die Welt zerstört war, und jeden dummen Todesfall, den ich während der Großen Löschung beobachten musste. Ich gebe ihm Micah Monroe und die Soldaten, die es nicht geschafft haben. Ich gebe ihm das Fohlenmädchen, das wir in Addeh Katir begraben haben. Ich gebe ihm den wahnsinnigen Kannibalenhund in Cricklewood Cove und Ma Lubitschs unendlichen Kummer. Ich gebe ihm mein gebrochenes Herz, als Leah mir die Hand schüttelte.
    Ich atme tief aus, lange und langsam, und das Geräusch, das damit einhergeht, untermalt eine tödliche Trauer. Humbert Pistill atmet
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