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Die Frau im Fahrstuhl

Die Frau im Fahrstuhl

Titel: Die Frau im Fahrstuhl
Autoren: Helene Tursten
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auf der Treppe des Kinderheims. Niemand weiß, wer meine richtigen Eltern sind. Aber meine Adoptiveltern waren die besten Eltern, die man sich nur wünschen kann. Ich war fünf Jahre alt, als wir nach Schweden zogen.«
    »War das, als Evalis geboren wurde?«
    »Nein. Das dauerte noch einmal fünf Jahre. Ich war zehn, als ich eine kleine Schwester bekam. Und ich kann Ihnen versichern, dass ich das noch immer als den glücklichsten Augenblick in meinem Leben betrachte! Wie sehr ich mich nach einer Schwester oder einem Bruder gesehnt hatte! Zu dieser Zeit waren Adoptivkinder noch recht ungewöhnlich. Es dauerte noch ein paar Jahre, bis das mit den Adoptionen aus Korea so richtig anfing. Ich gehörte nicht recht dazu, weil ich so anders aussah. Man hat mich zwar nicht gehänselt, wirklich nicht, aber ich hatte oft das Gefühl, nicht richtig dazuzugehören.«
    »Ihre Eltern müssen schon recht alt gewesen sein, als Evalis geboren wurde?«
    Ein Lächeln huschte über Hillevis Züge.
    »Mama war fünfundvierzig und Papa einundfünfzig. Sie fanden es peinlich, aber gleichzeitig freuten sie sich wahnsinnig. Ich hatte auch nie die Angst, dass sie mich vernachlässigen und dem Baby ihre ganze Liebe schenken könnten.«
    »Sie und Ihre Schwester standen sich also sehr nahe?«
    »Ja. Nach Evalis’ Geburt erkrankte Mama an Gelenkrheumatismus. Deswegen musste ich mich viel um meine Schwester kümmern. Ich war für sie wie eine Ersatzmutter.«
    »Hat Ihnen Evalis nie erzählt, dass ihr Mann sie schlug?«
    »Nein. Schließlich war ich ihm nie begegnet, ehe… all das passierte.«
    »Und trotzdem haben Sie mich gefragt, ob wir den Verdacht hätten, dass beim Tod Ihrer Schwester etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sei.«
    Ein Augenblick verging, bis Hillevi antwortete.
    »Das lag vermutlich daran, dass mir Evalis ein paar Tage zuvor eine kurze Mail geschickt hatte. Sie schrieb, sie sei in der Badewanne ausgerutscht und habe sich den Arm gebrochen. Ein komplizierter Bruch, der operiert werden musste. Sie war drei Tage stationär behandelt worden. Die Mitteilung war kurz, da sie nur mit der linken Hand schreiben konnte. Ich… ich hatte so ein komisches Gefühl. Dass sie nicht die Wahrheit schreibt. Vielleicht Telepathie. Und als ich dann die Nachricht von ihrem Sturz auf der Treppe erhielt… wurde dieses Gefühl stärker. Ich kann das nicht richtig erklären, aber ich hatte kein gutes Gefühl.«
    Irene betrachtete die Frau auf der anderen Seite des Tisches eingehend. Die Hände hielt sie gefaltet auf dem Schoß. Sie waren kräftig, und die Arbeit war ihnen anzusehen. Keine Ringe. Hillevi trug ein altmodisches schwarzes Kostüm und schwarze Pumps. Ein schlichtes Goldkreuz funkelte an ihrem Hals, ihr einziger Schmuck. Wahrscheinlich wollte sie anschließend zur Beerdigung. Ihr graues Haar trug sie kurz. Das Gesicht war recht breit, und außerdem war sie leicht untersetzt. Wahrscheinlich war sie nie eine Schönheit gewesen, auch nicht in jungen Jahren. Furchtlos begegneten die mandelförmigen Augen dem forschenden Blick Irenes. Trotz ihrer Trauer ging eine große Ruhe von ihr aus.
    »Als Ihr Schwager gefunden wurde, hatte er unzählige Bilder von Evalis im Haus. Das wirkt merkwürdig. Ich meine, falls er sie wirklich misshandelt und ihren Tod verursacht hat.«
    »Das kann auch ganz logisch sein. Vielleicht plagte ihn ein schlechtes Gewissen.«
    »Möglich. Frau Professor Stridner hat mich gestern angerufen und mir das Ergebnis der chemischen Analysen mitgeteilt. Wir wissen also, was er alles geschluckt hat.«
    Irene schaute auf ihren Notizblock, auf dem sie mitgeschrieben hatte. Ihr fiel auf, dass Hillevi sie die ganze Zeit reglos betrachtete.
    »Die Kombination von Schlaftabletten und Schmerzmitteln, die Ihr Schwager mit großen Mengen Alkohol runtergespült hatte, war sofort tödlich. Er muss den Alkohol schnell getrunken haben. Das tut man sicher, wenn man beschlossen hat, sich das Leben zu nehmen.«
    Hillevi nickte nur.
    »Wir haben keine Beweise dafür gefunden, dass es sich beim Tod Ihrer Schwester um etwas anderes als einen tragischen Sturz gehandelt hat. Bei Ihrem Schwager deutet alles auf einen Selbstmord hin. Das wollte ich Ihnen nur mitteilen, bevor Sie zurück nach Südamerika fahren.«
    Ihre Besucherin erhob sich langsam und gab ihr über den Tisch die Hand. Der Händedruck war fest, aber Irene spürte ein leichtes Zittern.
    »Danke. Vielen Dank«, murmelte Hillevi.
     
    Vor deinem Sarg stehen zu müssen ist furchtbar.
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