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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
Autoren: Howard Jacobson
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sein eigenes Leben eine Farce war? Geh heim, Julian. Kehr dahin zurück, wo du hergekommen bist. Lass uns in Frieden.
    Er saß auf dem Bettrand, sein Kopf dröhnte, er stimmte dem Urteil zu. Sein Leben war eine Farce gewesen, einfach lächerlich, in jeder Hinsicht. Und ja, es stimmte, er hatte versucht, sich anderer Leute Grandeur und Tragik zu erschleichen, da ihm selbst dergleichen fehlte. Er hatte es nicht böswillig gemeint, nicht respektlos, ganz im Gegenteil. Diebstahl war es trotzdem gewesen.

    »Es ist ein Jude!«, hatten die Schulkinder gegrölt, und Treslove hatte es persönlich genommen. Ein Lanzenstich in die eigene Seite. Nur was hatte das mit ihm zu tun, sah er einmal von seiner Pflicht ab, diesen kleinen mamsern eins hinter die Löffel zu geben? Warum war er von der Parkbank fortgetaumelt und hatte einen Drink gebraucht? Um welchen Schmerz zu lindern?
    Zeit also für einen weiteren Abschied. Warum nicht? In Abschieden war er schon immer gut gewesen. Kam es da auf einen mehr oder weniger an?
    Er sah sein Leben in verschiedene Richtungen auseinanderdriften. Es war, als wäre er betrunken. Betrunken sein war wie betrunken sein. Vielleicht taumelte er zur Tür hinaus und ward nie mehr gesehen. Vielleicht packte er seine Koffer und zog zurück in die Hampsteader Wohnung, die nicht in Hampstead lag. Vielleicht zog er sich rasch um und hastete zum Museum. »Tut mir leid, Darling, komm ich noch rechtzeitig für ein letztes, koscheres Kanapee?«
    Ihn überkam einer jener Anfälle grundlos guter Laune, für die unentschlossene Menschen so empfänglich sind. Die ganze Welt lag vor ihm ausgebreitet; er brauchte nur zu wählen. Zur Tür hinauszutaumeln und auf immer zu verschwinden, gefiel ihm am besten. Das hatte etwas Ehrenvolles, aber auch was Wildes, Hephzibah seine Abwesenheit und sich die Freiheit zu schenken. Also los, dachte er. Brechen wir auf. Er hätte in die Luft geboxt, wäre er jemand, der in die Luft boxte.
    Doch der Anblick von Hephzibahs verstreut herumliegenden Schuhen rührte ihn. Er liebte diese Frau. Sie hatte ihn mit dem Universum in Gleichklang gebracht. Und auch wenn sie ihm vielleicht nicht vergab, schuldete er ihr, schuldete er sich selbst, ihnen beiden eine zweite Chance. Rasch duschte er, zog einen schwarzen Anzug an und rannte nach draußen.
    Die Dunkelheit war wie ein Schock. Er schaute auf die Uhr. Viertel vor neun! Wie konnte das passieren? Er war doch kurz
nach sieben aus dem Park zurückgekehrt. Wo war die Zeit geblieben? War er auf dem Bett eingeschlafen, irgendwann zwischen der Vorstellung, einfach davonzulaufen, und dem Anblick ihrer Schuhe, die ihn daran erinnerten, wie sehr er sie liebte? Anscheinend. Eine andere Erklärung gab es nicht. Zum zweiten Mal an diesem Tag war er eingeschlafen und wusste nichts davon. Er hatte sich nicht mehr im Griff. Die Dinge passierten einfach. Er war nicht mehr Herr seines eigenen Lebens, lebte nicht einmal mehr sein eigenes Leben.
    Es war bloß ein zehnminütiger Spaziergang, doch der strotzte nur so von Gefahren. Laternenpfosten drängten sich ihm wieder in den Weg. Er sah sich mit Bäumen und Briefkästen kollidieren. Auf der Straße herrschte zu viel Verkehr, alle fuhren zu schnell. Busse krochen die Anhöhe hinauf. Hinter ihnen zogen Autos auf die Überholspur, obwohl ihre Fahrer bestenfalls eine Ahnung davon haben konnten, dass die Gegenseite frei war. Jeder Knochen im Leib schmerzte ihm bei dem Gedanken an den zu erwartenden Zusammenprall.
    Er bemühte sich, die arabischen Graffiti an den Wänden des alten Aufnahmestudios der Beatles zu übersehen.
    Gegen neun Uhr kam er zum Museum. Im Gebäude brannte Licht, und eine kleine Gruppe hatte sich davor versammelt, etwa ein Dutzend Menschen. »Versammelt« ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck. Versammlungen deuten eine Absicht an, und Treslove war sich nicht sicher, ob diese Menschen einen Grund hatten, sich hier aufzuhalten. Halb rechnete er damit, irgendwelche Plakate zu sehen: »Tod allen Juden«; Karikaturen von Vielfraßjuden, die Babys verschlangen; Davidsterne, die in Hakenkreuze übergingen. Solche Bilder schockierten längst nicht mehr. Man fand sie selbst in den angesehensten Publikationen, sogar auf deren Titelseiten. Seit Wochen quollen die Straßen über mit Demonstranten vom Trafalgar Square und der israelischen Botschaft, menschlichen Schrapnellen eines ohrenbetäubenden
Sperrfeuers der Wut, weshalb es Treslove keineswegs überrascht hätte, wenn sie sich hier in der
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