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Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage

Titel: Die Finkler-Frage - Jacobson, H: Finkler-Frage
Autoren: Howard Jacobson
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Obwohl er wusste, dass es heutzutage kein Erwachsener mehr wagen durfte, eine Meute Schulkinder zu verscheuchen, egal, was sie für Unsinn anstellten, da durchaus die Möglichkeit bestand, dass eines der Kinder mit einer Machete bewaffnet war, erhob er sich von der Bank, als müsste er dringend etwas erledigen – was wusste er schon von dringenden Erledigungen? –, und näherte sich der Gruppe.
    Ein großer Fehler, dachte er, noch während er ihn beging.
    2
    Mitten im Kreis der Schulkinder stand ein etwa fünfzehnjähriger, recht hübscher Junge, mit spanischen, portugiesischen Zügen und blauschwarzen Schläfenlocken, in schwarzem Anzug, Gebetsfransen lugten unterm Hemd hervor, auf dem Kopf ein
Kinderfilzhut – nein, kein Kinderfilzhut, dieser Junge hatte nichts Kindliches an sich, der Filzhut eines kleinen Mannes, denn das war er –, ein kleiner sephardischer Jude. Bis auf das Alter ein in jeder Hinsicht heiliger Mann.
    Abscheu packte Treslove.
    Wie er vermutlich auch die Kinder gepackt hatte. »Es ist ein Jude« lautete der Ruf, mit dem sie ihn verspotteten.
    »Es ist ein Jude!«, riefen sie. »Ein Jude!«
    Als hätten sie etwas entdeckt. Schaut mal, was da ist, schaut mal, was wir gefunden haben, außerhalb seines natürlichen Lebensraums.
    Es.
    Die Schulkinder sahen nicht aus, als wären sie zu einem Lynchmord fähig. Nicht gerade von einer guten Schule, fand Treslove, aber auch nicht unbedingt von einer schlechten. Die Jungen schienen unbewaffnet zu sein, die Mädchen wirkten nicht allzu vulgär. Ihre Bösartigkeit hielt sich in Grenzen. Sie würden den Jungen nicht umbringen, würden ihn nur ein wenig angehen, so wie man etwas Fremdes anstupst, das die Flut an den Strand gespült hat. »Es ist ein Jude!«
    Der heilige Mann, sah man vom Alter ab – der heilige Junge –, war bekümmert, zeigte aber keine Angst. Er schien ebenfalls zu wissen, dass man ihn nicht umbringen würde. Doch was er auch dachte, dies durfte nicht weitergehen. Treslove blickte sich um, da er nicht wusste, was er tun sollte. Sein Blick fiel auf eine Frau in seinem Alter, die ihren Hund ausführte. Das darf so nicht weitergehen, sagte ihr Blick. Treslove nickte.
    »He da, was ist denn hier los?«, rief die Frau mit dem Hund.
    »He da«, rief Treslove.
    Die Schulkinder schätzten die Lage ab. Vielleicht gab der Hund den Ausschlag. Vielleicht wollten sie auch nur einen Ausweg gezeigt bekommen.
    »Wir machen bloß Spaß«, rief eines der Kinder.

    »Husch, husch, weg mit euch!«, schrie die Frau, und ihr Hund kläffte. Es war nur ein Terrier mit einer grinsenden, vornehmen Bertie-Wooster-Miene, aber ein Hund ist ein Hund.
    »Selber husch, husch«, rief eines der Mädchen.
    »Blöde Fotze«, brüllte ein Junge, wich aber zurück.
    »He da!«, rief Treslove erneut.
    »Wir meinen’s doch nur nett«, sagte ein Mädchen, und aus ihrem Mund klang es, als hätten die beiden erwachsenen Wichtigtuer gerade dafür gesorgt, dass dieser Jude einen Haufen neuer Freunde verlor.
    Die Gruppe löste sich auf, wich zurück, nicht auf einmal, eher wie eine Flut, die sich langsam von diesem fremdländischen Ding zurückzog, das sie da ans Ufer gespült hatte. Sich selbst überlassen, ging dieses fremdländische Ding seiner Wege und dankte weder Treslove noch der Frau, auch nicht ihrem Hund. Verstößt bestimmt gegen seine Religion, dachte Treslove. Einen flüchtigen Moment lang traf ihn ein Blick aus schönen kohlschwarzen Augen. Der Junge war nicht verärgert. Treslove hätte nicht einmal sagen können, ob er Angst empfunden hatte. Das bin ich gewohnt, las er in diesem altklugen Gesicht.
    »Alles in Ordnung?«, fragte Treslove.
    Der Junge zuckte mit den Achseln, eine fast schon überhebliche Geste. So ist es eben, besagte das Achselzucken, reg dich nicht auf. Vielleicht noch eine Prise Stolz, etwas Unnahbarkeit, das Gefühl, Gottes Schutz zu unterstehen. Er findet mich unrein, dachte Treslove.
    Treslove sah die Frau an und rollte mit den Augen. Sie tat es ihm gleich. Versteh einer diese Kids.
    Er setzte sich wieder auf die Bank, auf der er sein Nickerchen gehalten hatte. Er merkte, wie er zitterte.
    Er bekam ihren höhnischen Spott nicht aus dem Kopf: »Es ist ein Jude!«

    Dabei kämpfte er gegen eigene höhnische Gedanken an. Warum sich dann so anziehen? Warum sich ihnen so zeigen? Und warum konntest du dich nicht bei uns bedanken? Warum hast du mich angesehen, als wäre ich für dich auch nur ein Es?
    Eines der Mädchen war nicht mit den übrigen
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